Zum 30. Todestag der Schriftstellerin Gisela Elsner

Unbeugsames Nachleben

Der gemeinste Trick lügnerischer Propaganda besteht darin, Wahrheit nicht zu verschweigen, sondern sie in ihr Gegenteil zu verkehren. Der Kontrast zum Beispiel, der eine einzige vernünftige Frau von einer verrückten Literaturlandschaft unterscheidet, in der sie schreibt, ist zu grell, als dass man ihn ausblenden könnte. Also wird behauptet, diese Frau sei die einzige Verrückte in einer vernünftigen Literaturlandschaft. Zu Lebzeiten hat man Gisela Elsner damit in die dunkelste verfügbare Ecke schieben wollen. Zumindest als Gerücht ist sie aber bis heute, dreißig Jahre, nachdem sie ihrem Leben am 13. Mai 1992 selbst ein Ende setzte, nicht totzukriegen. Noch immer freilich werden ihr Launen und Affekte unterstellt, wo sie in Wirklichkeit Gedanken hatte und Urteile fällte. Dass das so kommen würde, sah sie selbst voraus. Daher konnte sie in der Satire „Die Auferstehung der Gisela Elsner“ schon 1970 die Stimmen derer imitieren, die sich bis heute anmaßen, über sie zu richten. Die Norm-Null mag es nicht, wenn jemand im Einerlei auffällt. Elsner fiel heftig auf; äußerlich etwa mit einer markanten schwarzen Augenumrandung und Frisuren, bei denen mesopotamische Dämonenpriesterinnen der blanke Neid gepackt hätte, schriftstellerisch aber mit gesalzenen sprachlichen Eigenmächtigkeiten. So schmähte und schmäht man sie, wie sie es im Auferstehungs-Text parodiert hat: „Unwürdig waren in der Tat diese Bemühungen der Gisela Elsner, sich mit allen Mitteln nicht nur im Gedächtnis der Lebenden zu erhalten, nein: nachgerade einzunisten, egal, ob man sie nun gern vergessen hätte oder nicht.“

Geboren wurde Gisela Elsner am 2. Mai 1937 als Tochter eines Direktors bei Siemens; aus Selbstachtung entschloss sie sich bald zum Klassenverrat. Den Satz von Marx, dass die Menschen ihre Geschichte zwar selbst machen, aber nicht aus freien Stücken, übersetzte sie in einer ihrer ersten schriftstellerischen Arbeiten metaphorisch ins Bild einer vorgefertigten Welt, in die ihre Figur Triboll unverschuldet als Neugeborener gerät: „Nur unter der Decke brannte eine elektrische Birne. Da stimmte Triboll ein großes Geschrei an, denn er hatte erwartet, das Licht der Welt zu erblicken.“

Das sozial Vorgefertigte soll die Kunst nach dem Willen der Bourgeoisie nicht durchschauen, sondern dekorieren; für die Verwöhnten als „Hochkultur“, für den Rest mit Kitsch, Kulturindustrie und Kunstgewerbe. Auf all das hatte Gisela Elsner keine Lust. Kunstpraxis war für sie aber auch kein „Selbstverwirklichungswahn“ – so nannte sie eine Erzählung, in der eine töpfernde Mittvierzigerin namens Jette Wurbs für den trüben Zustand steht, in dem sich das schöpferische Potenzial des zerfallenden Kleinbürgertums erschöpfen muss: „Jettes Schaffensdrang war grenzenlos. Bis zur physischen Erschöpfung produzierte sie Blumentöpfe. Sie kümmerte sich nicht um Nachfrage und Bedarf, geschweige denn um den Platzmangel, der die häusliche Gemütlichkeit beeinträchtigte.“

Während der Siebziger- und Achtzigerjahre wurde es in Westdeutschland üblich, Literatur so zu schreiben, wie Jette Wurbs töpfert. Man nannte das zum Beispiel „Verständigungstexte“ oder „Selbsterfahrungserzählungen“.

Organisiert wurde damit der Rückzug einer ganzen Generation alternder Unzufriedener in den Innerlichkeits- und Naturkinderschwachsinn, dessen Kerntruppe Elsner als „die Grünlichen“ verhöhnte. Sie hätte sich stattdessen auch anpassen können. Man hatte ja ihren ersten Roman „Die Riesenzwerge“ (1964) gelobt und preisgekrönt, was eine Art Angebot darstellte: Sie wäre willkommen gewesen als Satirikerin, die in giftigen Büchern die Seelenzustände der kulturtragenden Krisenkasper karikiert, statt sie analytisch zu durchdringen. Aber die Unerbittliche ließ sich nicht schmeicheln oder in Versuchung führen, sondern vertiefte ihre Grotesken zusehends zu zeitgeschichtlichen Tiefenbohrungen im falschen Bewusstsein der Landsleute. Buch um Buch wurde sie mit Werken wie „Das Berührungsverbot“ (1970), „Der Punktsieg“ (1977), „Die Zerreißprobe“ (1980) und „Abseits“ (1982) einerseits immer besser und andererseits vom Kritikpöbel der etablierten feuilletonistischen Plattformen immer kälter geschnitten. Anstatt zu verzweifeln, trat die Autorin in die DKP ein. Dann trat sie im Zuge der Erdbeben, die den Niedergang des Sozialismus Ende der Achtzigerjahre begleiteten, wieder aus. Schließlich aber trat sie wieder ein, der Prinzipien wegen. Es war ein Hin und Her; merken aber darf sich der organisierte Kommunismus, dem sie eine wertvolle Verbündete war, dass Gisela Elsner niemals einen einzigen Schritt aus Opportunismus getan hat. Ihre Sicht blieb klar; in einem ihrer letzten zu Lebzeiten publizierten Texte, dem düster prophetischen Roman „Fliegeralarm“ (1989), sprach sie, die das Ende des Zweiten Weltkriegs als Schulkind erlebt hatte, deutlich aus, wie es nach der Niederlage der Vernunft leider kommen musste: „Ich will aber nicht ins Himmelreich, rief mein Bruder Kicki zur Verblüffung meiner Eltern. Möchtest du etwa lieber in die Hölle, fragte meine Mutter. Ich will nur an die Ostfront, erwiderte mein Bruder Kicki mit einer finsteren Entschlossenheit, die meine Eltern offensichtlich bestürzte.“

Ein Buch, das an Gisela Elsner erinnern wollte, erschien 2009 unter dem merkwürdigen Titel „Die letzte Kommunistin“. Zwei Jahre später kam eine Biographie des Dichters Ronald M. Schernikau auf den Markt, die „Der letzte Kommunist“ hieß. Solchen voreiligen Versuchen, die Sache, der diese bedeutenden Leute verpflichtet waren, unter Bedauern zu begraben, sollte man sich nicht anschließen. Besser, man hält es mit Jesus, der seinen Tod bekanntlich auch um einiges überlebt hat: In der Bibel, einem Buch, das sich ebenfalls hartnäckig hält, sagt er eine Zeit voraus, in der „die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten“ sein werden. Bis dahin wird der lange Atem schon reichen, den die Kunst und der Kommunismus teilen.

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"Unbeugsames Nachleben", UZ vom 13. Mai 2022



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