Mit ihren Sanktionen gegen Syrien haben Deutschland und die EU zum Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad sowie zum Siegeszug der Dschihadistenmiliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) beigetragen. Dass die Offensive der HTS innerhalb von nur elf Tagen zur Einnahme von Damaskus führen konnte, hatte mehrere Ursachen, darunter zum Beispiel weithin grassierende Korruption in den syrischen Streitkräften und deren Infiltration durch Aktivisten der Opposition; beides hatte zersetzende Wirkung, als die HTS ihren Feldzug startete. Genährt wurden die Korruption sowie eine allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung allerdings auch durch die drastischen Folgen der westlichen Sanktionen, die zu einer massiven Zunahme von Armut und Hunger führten. Bereits 2019 warnte der European Council on Foreign Relations (ECFR), die Sanktionen liefen letztlich auf eine „Politik der verbrannten Erde“ hinaus, die „unterschiedslos und willkürlich gewöhnliche Syrer“ strafe. Profiteur der Unzufriedenheit war die HTS, die im Gouvernement Idlib ein repressives, auf einer harten Auslegung der Scharia beruhendes Regime errichtet hat und nun die Macht in Damaskus übernimmt.
Auf dem Weg zur Normalisierung
Der Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad kam für Beobachter, Experten und Politiker weithin überraschend. In den vergangenen Jahren war es Damaskus gelungen, seine Isolation zu überwinden und seine Außenbeziehungen schrittweise zu normalisieren. Ein Beispiel bot sein Verhältnis zu den Ländern der arabischen Welt. Als deren erstes hatten die Vereinigten Arabischen Emirate bereits Ende 2018 begonnen, die nach Beginn des Aufstands gegen Assad abgebrochenen bilateralen Beziehungen wieder aufzunehmen. Es folgten weitere Länder. Nach dem Erdbeben, das im Februar 2023 Teile Nordsyriens und der Türkei verwüstet hatte, gewann die Entwicklung rasch an Schwung. Im Mai 2023 hieß es über die erste Teilnahme al-Assads an einem Gipfeltreffen der Arabischen Liga seit 2011, es habe „einen warmen Empfang“ für Syrien gegeben. Auch die Türkei bemühte sich noch im Sommer 2024 um eine Wiederannäherung. Und wenngleich Damaskus die Erwartungen der arabischen Staaten und der Türkei nicht erfüllte, die Heimkehr von Flüchtlingen etwa aus dem Libanon zu ermöglichen und zudem den Schmuggel der Droge Captagon zu verringern, lieferte etwa Riad unter Umgehung der US-Sanktionen Flugzeugersatzteile nach Syrien – ein Zeichen seines Kooperationswillens. Sogar in der EU gab es Überlegungen, Kontakte zu Damaskus wieder aufzunehmen, um Flüchtlinge abschieben zu können.
Kalt erwischt
Dass die Offensiven der Dschihadistenmiliz Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS) wie auch der Syrian National Army (SNA) nun von Ankara unterstützt wurden, führen Beobachter darauf zurück, dass al-Assad das Bemühen der Türkei um Gespräche ignorierte: Er habe sich wohl, so heißt es, nach der Wiederaufnahme seines Landes in die Arabische Liga sicher genug gefühlt. Dass hingegen die syrischen Streitkräfte lediglich schwachen Widerstand gegen die HTS-Miliz leisteten und sich schnell zersetzten, hat al-Assads Unterstützer wie auch seine Gegner gleichermaßen überrascht. Irans Außenminister Abbas Araghchi berichtete Ende vergangener Woche, „die Unfähigkeit der syrischen Armee“, der HTS-Offensive entgegenzutreten, habe alle kalt erwischt. Freilich habe al-Assad, als Araghchi ihn am 1. Dezember in Damaskus getroffen habe, sich bereits über den „Unwillen“ seiner Soldaten zum Kampf beklagt. Araghchi gab an, er habe den Eindruck gewonnen, Syriens Präsident habe die Situation nicht recht erfasst. Hatte Teheran Damaskus noch Anfang vergangener Woche angeboten, Truppen zur Unterstützung zu entsenden, so begann es am Freitag, seine Einheiten aus Syrien zu evakuieren. „Wir können nicht als Berater und Unterstützer kämpfen, wenn die syrischen Streitkräfte selbst nicht kämpfen wollen“, wurde der iranische Experte Mehdi Rahmati zitiert.
„Politik der verbrannten Erde“
Zum umfassenden Kollaps nicht nur der Streitkräfte, sondern auch der staatlichen Strukturen Syriens haben nicht zuletzt die massiven Sanktionen beigetragen, die die EU, die USA sowie weitere westliche Staaten seit Sommer 2011 gegen das Land verhängten und immer stärker ausweiteten. Bereits 2015 konstatierte die renommierte medizinische Fachzeitschrift „The Lancet“, die Sanktionen gehörten „zu den Hauptursachen für das Leid der Bevölkerung in Syrien“. 2018 erklärte der UN-Sonderberichterstatter zu negativen Folgen von Sanktionen, Idriss Jazairy, die Sanktionen hätten „verheerende Auswirkungen auf (…) das tägliche Leben der einfachen Menschen“. 2019 urteilte der European Council on Foreign Relations, man müsse die Zwangsmaßnamen als „Politik der verbrannten Erde“ einstufen, „die unterschiedslos und willkürlich gewöhnliche Syrer bestraft“. In einer Analyse, die im Juli 2022 an der renommierten Bostoner Tufts University veröffentlicht wurde, hieß es, mit den Sanktionen verhindere der Westen nicht nur den Import von Lebensmitteln nach Syrien, da er deren Transport sowie deren Bezahlung nicht erlaube; er schädige auch den Nahrungsmittelanbau im Land selbst, indem er die Einfuhr beispielsweise von Düngemitteln, Bewässerungspumpen und Treibstoff verbiete. Anfang 2023 litten nach Angaben des World Food Programme (WFP) zwölf der gut 22 Millionen Syrer an Nahrungsmittelunsicherheit, 2,5 Millionen gar an schwerer.
Der Zerfall der Streitkräfte
Zwar war die Absicht, die syrische Bevölkerung mit den Sanktionen in die Hungerrevolte zu treiben, klar erkennbar und wurde zuweilen auch medial vermittelt. So hieß es etwa im Jahr 2020 in der öffentlich-rechtlichen „Tagesschau“: „Armut und Not machen Syrer mutig“. Dennoch können sie den Kollaps der syrischen Streitkräfte und des syrischen Staates kaum allein erklären. Mit Blick auf die syrischen Streitkräfte liegen mittlerweile Analysen vor, aus denen sich zentrale Missstände detailliert ablesen lassen. Demnach haben gezielt gestartete, aber offenkundig mangelhaft umgesetzte Militärreformen etwa dazu geführt, dass allzu viele kampferfahrene Soldaten bloß als Reservisten geführt und nicht schnell genug mobilisiert wurden. Vor allem aber haben sich in den vergangenen Jahren Korruption und weitere kriminelle Aktivitäten in den Einheiten breit gemacht. So belegen interne Beschwerden aus einzelnen Truppen, dass Kommandeure etwa für die Genehmigung von Urlaubstagen viel Geld verlangten, was bei ihren Soldaten die Unzufriedenheit wie auch die Bereitschaft zu illegaler Mittelbeschaffung aller Art steigerte – von Schmuggel über das Ausplündern von Bauern. Gleichgültigkeit machte sich breit und gestattete es oppositionellen Aktivisten, Posten in den Streitkräften zu ergattern, mit fatalen Folgen während der HTS-Offensive, bei deren Beginn zudem zahlreiche korrupte Kommandeure sofort flohen. Der Zerfall der Streitkräfte – und des Staates – war unter solchen Umständen nur eine Frage der Zeit.
Beschuss durch Israel
Einen maßgeblichen Beitrag zu al-Assads Sturz geleistet zu haben, nimmt ausdrücklich Israel für sich in Anspruch. Der Zusammenbruch der Streitkräfte und der staatlichen Strukturen Syriens sei „das direkte Ergebnis unseres entschiedenen Vorgehens gegen die Hisbollah und gegen Iran, al-Assads Hauptunterstützer“, erklärte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu am Sonntag. Dieses Vorgehen habe „eine Kettenreaktion“ bei all denjenigen ausgelöst, „die sich von dieser Tyrannei und ihrer Unterdrückung befreien“ wollten. Zwar trifft es zu, dass Israel mit Luftangriffen auf Syrien – laut Korrespondentenberichten „ein, zwei Dutzend Attacken am Tag, über die nur nicht berichtet“ worden sei – besonders Stellungen der Hisbollah, aber auch die syrischen Streitkräfte selbst hart getroffen und mit schwerem Bombardement von Verbindungsstraßen zwischen Syrien und dem Libanon das Heranführen von Verstärkung deutlich erschwert hat. Doch zeigen die Äußerungen von Irans Außenminister Araghchi, dass nicht der fehlende äußere Nachschub, sondern das Zerbröseln der syrischen Streitkräfte der entscheidende Grund dafür war, dass die HTS-Miliz innerhalb von nur elf Tagen aus Idlib bis Damaskus durchmarschieren konnte. Die beharrlichen Luftangriffe, mit denen Israel Syrien überzog, vernichteten wichtiges, aber nicht entscheidendes militärisches Potenzial.
„Versöhnlicher Kämpfer“
Als maßgeblicher Machtfaktor präsentiert sich in Damaskus nun die Dschihadistenorganisation HTS. Im öffentlich-rechtlichen ZDF heißt es zu ihrem Anführer Abu Muhammad al-Julani, er habe sich „vom Dschihadisten zum moderaten und versöhnlichen Kämpfer“ gewandelt.