(…) „Schrumpfung oder Ausdehnung“ – damit greift Zeise die plakative Schlussfolgerung von Miehes Buch auf und wendet sich vehement gegen die These von der Schrumpfung und gegen die damit einhergehende politische Einschätzung von der mangelnden Hegemoniefähigkeit einer orthodox verstandenen Arbeiterklasse. (Für die BRD: 5,7 Millionen Arbeiterklasse zu 37 Millionen Lohnabhängigen.) Das ist für kommunistische Parteien mit Wurzeln im „Manifest“ in der Tat eine existenzielle Frage.
Diese wichtige theoretische Frage wird in dem Buch allerdings nur auf 30 Seiten behandelt und nur um eine (ernst gemeinte) These als heuristische Hilfe für die Sortierung des sehr voluminösen empirischen Materials zu haben. Es handelt sich also nicht um eine umfangreiche und vertiefte theoretische Studie, sondern, wie Zeise richtig anmerkt, um eine empirische Arbeit.
Dieser empirische Gehalt ist mit dem Untertitel des Buches „Struktur der Erwerbstätigkeit und der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in der BRD von 1957/1970 bis 2005/2008“, richtig angegeben.
Auf 420 Seiten werden Interpretationen von Statistiken über die Verteilung und Veränderungen der verschiedenen Arten der Beschäftigten über mehr als 70 Wirtschaftszweige im Verlauf der Jahre 1957/1970 bis 2005/2008 geboten – darunter vor allem für die Lohnabhängigen.
Die 30 Seiten theoretische Erwägungen sind im Vergleich zur vielbändigen großen IMSF*-Studie von 1973, mit ähnlichen Fragestellungen, natürlich völlig unzureichend. (IMSF Hrsg: Klassen- und Sozialstruktur der BRD 1950–1970). Dort hatte, als Auftakt der gesamten Studie, Heinz Jung, damals Stellvertretender Leiter des IMSF, ein ganzes Buch als theoretische Vorarbeit für die empirischen Untersuchungen, mit 220 dicht bedruckten Seiten, einschließlich sehr detaillierter ausführlicher Anmerkungen zu genau dieser Frage geschrieben. (Teil I, Klassenstruktur und Klassentheorie – Theoretische Grundlagen und Diskussion, Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt 1973)
Jung hatte dort alle damals relevanten Positionen und Diskussionen zur Frage der Arbeiterklasse im marxistischen Horizont nicht nur aufgezählt, sondern intensiv diskutiert. So auch jene der französischen KP, die die Arbeiterklasse (ganz orthodox) auf die Arbeiter in der kapitalistischen Großindustrie beschränkt gesehen hat. Diese Problematik wurde damals von Moskau bis Paris und auch dazwischen, in Berlin-DDR, Berlin-West und in Frankfurt ausführlich und kontrovers diskutiert.
Jung arbeitete dabei die für die Studie des IMSF und für die programmatische Entwicklung der DKP entscheidende Position heraus, die für die DKP noch heute gilt, und die Zeise (…) als die seiner Meinung nach wirklich orthodoxe bekräftigt: Es ist der Warencharakter der Arbeitskraft. Diese Eigenschaft führt auch Zeise bei seiner kurzen Definition als erstes an. Was er nicht erwähnt: Jung hat auch das Konzept des Kerns der Arbeiterklasse in die BRD-Diskussion eingeführt, die Arbeiter in der (groß-)kapitalistischen Großindustrie. Dort finden sich dann all die Bestimmungen wieder, die beim Warencharakter der Arbeitskraft noch nicht oder nicht mehr entscheidend sind – bei genauem Hinsehen eine merkwürdige, inkonsequente Begriffsbildung. Aber dies ermöglicht es, dem Schrumpfungsprozess des variablen Kapitals gegenüber dem konstanten fixen und vor allem dem konstanten zirkulierenden Kapital zumindest begrifflich zu entkommen.
Miehe kritisiert in seiner 30 Seiten Einleitung diese Bestimmung als nicht zureichend, wenn auch notwendig. Ihm gilt aber darüber hinaus die Beteiligung an der Verwertung der individuellen Kapitale in der Produktion von Mehrwert und der dadurch ermöglichten Aneignung von Profit aus der gesellschaftlichen Mehrwertsumme als notwendig für die Bestimmung der Arbeiterklasse. Dabei beruft er sich auf Engels und auf Marx.
Da zumindest Engels und Marx die weltrevolutionäre Rolle der Arbeiterklasse als Überwinder des Kapitalismus an diese Eigenschaft ihrer antagonistischen Stellung gegen die Kapitalistenklasse geheftet haben, ist die Begründung einer Strategie zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise „nur“ auf den Warencharakter der Lohnarbeit unzureichend!
Das hat der Autor in seinem Vorwort von 30 Seiten diskutiert, wenn auch aus Platzgründen nicht ausführlich oder gründlich, aber auch, weil das nicht sein Hauptanliegen war – insofern konnte dies auch von Zeise nicht vertieft aufgegriffen werden. Aber bei der von Zeise in den Mittelpunkt seiner Kritik gestellten Problematik ist das natürlich die zentrale Frage. Und sie sollte mit der gebotenen Gründlichkeit in marxistischen Kreisen mit der Rezeption des oben erwähnten Buches von Jung beginnen!
Dagegen ist der Inhalt und die Nützlichkeit des allergrößten Teils des vorgestellten Buches woanders zu sehen: Wenn die Schädlichkeit des entwickelten Kapitalismus thematisiert wird, stehen im Mittelpunkt oft die „Ausfall“-Erscheinungen – die als Prekarisierung erscheinende Auflösung des Normalarbeitsverhältnisses und des Normalarbeitstages, ihres „Ausfransens“ nach unten – die man auch als Rückkehr zur Tagelöhnerei bezeichnen kann. Dass dies nur die am unteren Ende der individuellen Reproduktion der Arbeitskräfte sichtbaren Auflösungen einer geregelten Reproduktion in den kapitalistischen Gesellschaften sind, kann man erst in den Blick bekommen, wenn die Umwälzung des Gesamtreproduktionsprozesses der kapitalistischen Produktion in einer Gesellschaft in ihrem Niederschlag in der ökonomischen Zweigstruktur, nicht nur der Industrie, zumindest statistisch, sichtbar gemacht wird (die euphemistischen Stichworte sind: Individualisierung und Tertiärisierung). Dies zu versuchen war die Absicht der hier besprochenen Arbeit als eines damals geplanten Teils des Projektes der Marx-Engels-Stiftung Arbeiterklasse@BRD.
* IMFS – Institut für Marxistische Studien und Forschungen in Frankfurt am Main (1968–1989)