Wie der Sozialstaat im imperialistischen Deutschland verkommt

Umgekehrter Leistungsmissbrauch

Jörg Lang

Durch die Kompliziertheit der Verfahren wird der Zugang zu Sozialleistungen nachhaltig erschwert. Die Anspruchsinhaber werden abgeschreckt. Viele Menschen wollen sie nicht mehr geltend machen oder sind gar nicht mehr imstande dazu. Das Ergebnis ist eine erhebliche Verkürzung der Gesamthöhe der Leistungen.

Eine Untersuchung des Deutsches Jugendinstituts von 2023 (PDF) kommt zu ernüchternden Ergebnissen:

„Verschiedene Studien zur Nichtinanspruchnahme von Sozialhilfe beziehungsweise (seit 2005) Arbeitslosengeld II in Deutschland weisen je nach Datenbasis und methodischem Vorgehen Nichtinanspruchnahmequoten zwischen 34 und 67 Prozent aus. (…) Das heißt, auf jede Hilfeempfängerin beziehungsweise jeden Hilfeempfänger kommen zwei bis drei berechtigte Personen, die die Hilfe nicht erhalten („Dunkelziffer der Armut“). Anders ausgedrückt: Würden alle Berechtigten ihren Anspruch geltend machen, wären die Bezugsquoten mindestens ein Drittel bis zu zwei Dritteln höher als beobachtet. Dies verdeutlicht die enorme Größenordnung und auch fiskalische Bedeutung der Nichtinanspruchnahme von Sozialleistungen.“ Und: „Als Hauptgründe der Nichtinanspruchnahme monetärer Leistungen sind Unkenntnis, als gering erwartete finanzielle Vorteile, Sprach- und Verständigungsprobleme, Scham, geringes Vertrauen in den Staat, hohe bürokratische Hürden, die Komplexität des Sozialsystems, unzulängliche Verwaltungsabläufe und institutionelle Diskriminierungen zu nennen.“

Die Untersuchung kommt zum Schluss, dass entgegen der Demagogie vom „Missbrauch von Sozialleistungen“ in Wahrheit ein Defizit bei der Inanspruchnahme und eine Vorenthaltung von Leistungen festzustellen ist.

Nach den Erfahrungen eines befreundeten Rechtsanwalts, der über Jahre auf Hartz-IV-Leistungen spezialisiert war, erwiesen sich in seiner Praxis die Hälfte aller ihm vorgelegten Bescheide als rechtswidrig. Bei der Hälfte der Antragsteller wurden unmittelbare Leistungskürzungen vorgenommen. Bis zu 80 Prozent der von ihm eingelegten Rechtsbehelfe waren letztlich erfolgreich.

Der große Schwindel

Zum 1. Januar 2023 hatte die Ampel-Koalition als lang versprochene Reform zu den Hartz-IV-Regeln des SGB 2 das „Bürgergeld“gesetz eingeführt. Entsprechend der Forderung vieler Sozialverbände und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sollte die Grundsicherung angehoben werden. Damit sollte eine menschenwürdige Existenz für arbeitslose Erwerbsfähige („Bürgergeld“) sowie nicht Erwerbsfähige („Sozialgeld“) gesichert werden. Außerdem sollte die Zahl der oft willkürlich verhängten Sanktionen verringert werden. Vor allem sollte die Vermittlung in dauerhafte Arbeit oder Ausbildung Vorrang erhalten vor der Vermittlung in jede Art „zumutbarer“ Helferstellen. Der Konkurrenz-, Abgrenzungs- und Anrechnungswirrwarr zu Sozialleistungen anderer Behörden blieb. Die kurzfristige Erhöhung des Bürgergeldes ist durch die Inflation aufgefressen. Inzwischen hat die Ampel-Koalition mit dem Haushalts-, besser: Rüstungs-, Finanzierungsgesetz vom März alles wieder zurückgedreht. Die Sanktionen wurden wieder verschärft wie auch die Regeln für die Zumutbarkeit von anzunehmenden Jobs. Weiter hat Sozialminister Hubertus Heil (SPD) Anfang 2024 bereits angekündigt, dass die Erhöhung des Bürgergelds für das Jahr 2025 einfach ausgesetzt werde. Nach Medienberichten gilt das auch für 2026. Damit ist nach einem Jahr klar, dass auch mit dem Bürgergeld das Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum verwehrt wird.

Außerdem hat die Ampel die Mittel für die Förderung von beruflichen Eingliederungsmaßnahmen für Langzeitarbeitslose erheblich gekürzt. Die Folge: Laut Bundesagentur für Arbeit sank die Teilnehmerzahl von 10.000 im Jahr 2019 auf 3.628 im Jahr 2023 und voraussichtlich nur noch etwa 3.000 in diesem Jahr – bei mutmaßlich 100.000 Anspruchsberechtigten. ver.di-Chef Frank Werneke stellte am 13. Juli fest: „Die Bürgergeldreform ist Geschichte. Wir sind zurück bei Hartz IV.“

Gefahr für die Demokratie

Die Kompliziertheit der Verfahren führt auch dazu, dass die Leistungsberechtigten immer mehr Zeit mit den Anträgen verbrauchen. Nur wer bereit und in der Lage ist, Stunden und Tage damit zu verbringen, kann für sich „das Beste“ herausholen. Auch dadurch werden Menschen, die ihr „gutes Recht“ einfordern, zunehmend zu Objekten des Sozialstaats.

Nach dem Grundgesetz und entsprechender Rechtsprechung sollen die Menschen durch die Sozialleistungen in die Lage versetzt werden, nicht nur materiell und physisch ein menschenwürdiges Leben zu fristen, sondern auch „teilhabefähig werden“. Auch Empfänger von Sozialleistungen sind mündige Bürger und sollen am kulturellen Leben und in zivilgesellschaftlichen und politischen Organisationen teilnehmen können. Stattdessen werden sie ständig durch die anhaltenden und zugleich existentiellen Auseinandersetzungen mit den verschiedensten Behörden beschäftigt und letztlich gelähmt.

Insoweit gefährdet der Abbau des Sozialstaats unmittelbar die bürgerliche Demokratie.

Rüstung statt Sozialstaat und Demokratie

Auf dem Parteitag der Grünen im Oktober 2022 begründete Außenministerin Annalena Baer­bock ihre Zustimmung zu Waffenexporten nach Saudi-Arabien mit der Verteidigung des Sozialstaats. Würde Deutschland aus dem gemeinsamen Rüstungsprojekt mit Britannien und Spanien aussteigen, würden die Ausrüstungskosten der Bundeswehr steigen und dem Sozialstaat weniger Geld zur Verfügung stehen. „Ich will nicht, dass wir noch mehr im sozialen Bereich sparen und Lisa dann keine Mittel mehr hat für die Kinder, die sie dringend brauchen“, sagte sie in Richtung Familienministerin Lisa Paus. Der „Tagesspiegel“ kommentierte: „Keine Waffenlieferungen, keine Kindergrundsicherung. Eine verwegene Argumentation, doch die meisten Delegierten applaudieren.“

Baer­bocks ebenso perverse wie dumme Argumentation ist an moralischem Opportunismus und Zynismus kaum zu überbieten. Eigentlich überflüssig, daran zu erinnern: ihre Regierung hat die entsprechenden Waffenexporte dann durchgezogen, während die Kindergrundsicherung auf den St.-Nimmerleins-Tag verschoben ist.

Perspektiven

Die von der deutschen Regierung betriebene Konfrontations- und Aufrüstungspolitik wird die geschilderte Entwicklung weiter verschärfen – ebenso wie all die drängenden ungelösten globalen Probleme.

Auch das Sozialstaatsgebot der Verfassung und die Würde des Menschen erfordern deshalb heute eine Umkehr von der Konfrontations- und Rüstungspolitik. Zur Sicherung der Interessen von armen und/oder Menschen mit Beeinträchtigungen muss die internationale Zusammenarbeit auch mit den Ländern des Globalen Südens, mit China und nicht zuletzt wieder mit Russland gestärkt werden.

Das deutsche Sozialleistungssystem selbst muss radikal vereinfacht und die Verfahren verkürzt werden. Für Leistungen außerhalb der überkommenen Sozialversicherungssysteme darf nur eine, am besten eine kommunale Stelle zuständig sein. Dabei muss die Feststellung der zusätzlichen Bedürftigkeit nach einheitlichen Grundsätzen erfolgen. Dort muss fachlich gut ausgebildetes Personal mit persönlichen Ansprechpartnern „niederschwellig“ zur Verfügung stehen. Vertreter sozialer Organisationen müssen an der Hilfe beteiligt werden. Solange die in Frage kommenden Leistungen noch aus verschiedenen Töpfen finanziert werden, muss es Aufgabe dieser Ansprechstelle sein, die Zuständigkeit zu klären. Andererseits muss sie den Hilfeberechtigten gegenüber auch allein für die notwendige Gesamtleistung zuständig und verantwortlich bleiben.

Auch die Rechtsmittelverfahren müssen vereinfacht werden einschließlich der Klageverfahren. Dabei darf nur ein Gericht – das Sozialgericht – einheitlich zuständig sein, wenn nötig mit Spezialkammern für allgemeine Sozialleistungen. Auch diese müssen personell aufgestockt werden. Anders als heute bei Streitigkeiten ums Kindergeld vor dem Finanzgericht müssen alle entsprechenden Verfahren für die Hilfesuchenden gebührenfrei sein.

Die derzeitige Politik wie auch die Androhungen von CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz verheißen allerdings nichts Gutes. Das Weiter-so bei der Kriegs- und Aufrüstungspolitik zwingt geradezu zum Kahlschlag bei Sozialleistungen. Zugleich hat die Inflation, die mit eine Folge des Konfrontationskurses gegen Russland war und ist, die Verarmung der Menschen vorangetrieben. Immer mehr Bedürftige werden sich also um immer weniger streiten. Wie mit Rassismus schaffen sich Politiker und Politikerinnen auch mit der Hetze gegen Bedürftige Sündenböcke für die Folgen der Politik, die sie selbst zu verantworten haben.

Es droht, dass eine immer größere Zahl von Menschen nicht nur in den Sozialstaat Deutschland den Glauben verliert, sondern auch in ein demokratisches, soziales und solidarisches Gemeinwesen. Das gefährdet dauerhaft das friedliche Zusammenleben der Menschen, national wie international.

Unser Autor war als Anwalt in Stuttgart tätig. In der vergangenen Woche berichtete er über die Zersplitterung der Sozialleistungen, die mit dazu beiträgt, dass der Sozialstaat verkommt.

Exkurs: Wie war es ­eigentlich in der DDR?
Ein sehr verkürzter Exkurs: In der DDR gab es – neben dem klassischen Sozialversicherungssystem mit Krankenversicherung, Alters- und Unfallrenten und Arbeitslosenversicherung – bei besonderer Bedürftigkeit ursprünglich keine förmlichen Rechtsansprüche auf Sozialleistungen oder gar gegenüber verschiedenen Sozialleistungsträgern. Dementsprechend gab es auch keine förmlichen Rechtsmittelverfahren, was zu Recht immer wieder kritisiert wurde. Andererseits war es aber – abgesehen von der SED selbst und ihren Formationen – die umfassende Aufgabe aller betrieblichen und gesellschaftlichen Institutionen, vor allem des FDGB und der Volkssolidarität oder der Jugendhilfeausschüsse bei den Gemeinden, sich um Menschen in Not oder mit Problemen zu kümmern. Sie waren für sie unmittelbare persönliche Ansprechpartner. In der Regel war die Hilfe im Rahmen der vorhandenen beschränkten Mittel zwar bescheiden und manchmal bevormundend oder parteiisch, aber doch präsent und effektiv.
Das wurde damals auch im Westen eingestanden. Heinz Vortmann berichtete 1988 in der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“, die von der „Bundeszentrale für politische Bildung“ herausgegeben wird, über die „Soziale Sicherung in der DDR“: „Das allgemeine Verteilungsprinzip, das sich in der DDR in erster Linie an der Arbeitsleistung orientiert, wird durch soziale Aspekte ergänzt. Dies erfolgt in Fällen, in denen das Leistungsprinzip nicht anwendbar ist (Risiken des Lebens) oder zu unerwünschten Ergebnissen führt (zum Beispiel Benachteiligung von Familien mit Kindern). (…)
Das Netz der sozialen Sicherung in der DDR ist eng. Für den Kern der Sozialleistungen – die Renten – besteht indes lediglich eine Mindestsicherung. Im Zuge der allmählich an Bedeutung gewinnenden Freiwilligen Zusatzrentenversicherung wird sich aber die Lage der Rentner in gewissem Umfang bessern. Leistungen, die im Zusammenhang mit vorübergehender Erwerbsunfähigkeit oder Mutterschaft/Familie stehen, haben ein deutlich höheres Niveau.“

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"Umgekehrter Leistungsmissbrauch", UZ vom 8. November 2024



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