Kanzlerin Merkel sieht im Kampf gegen die Arbeiterklasse der DDR ein Erfolgsrezept

Umbruchmodell Ost

Drei Jahrzehnte nach dem Anschluss der DDR sind die Regierenden zufrieden: Es kam nicht zum Aufstand. Die Erfahrung soll für zukünftige Krisen genutzt werden.

Am 2. Juni versammelten sich die ostdeutschen Regierungschefs per Video zu ihrer 48. Regionalkonferenz. Später schaltete sich die Bundeskanzlerin hinzu. Es war ein Routinetreffen, das Angela Merkel dazu nutzte, eine bemerkenswerte, wenn auch faktisch längst verwirklichte Überlegung zu äußern: Mit dem zukünftigen Wandel in der Automobilindustrie und der Digitalisierung müssten auch die westdeutschen Länder „viel Transformationsarbeit leisten“ und könnten dabei von der Entwicklung seit 1990 in Ostdeutschland lernen. Der Kampf gegen die Arbeiterklasse der DDR als Referenzmodell.

Merkel bezog sich auf die offizielle Beschreibung der Lage in Ostdeutschland. Sie liegt seit Dezember 2020 im Abschlussbericht der Kommission „30 Jahre friedliche Revolution und deutsche Einheit“ vor. Das Gremium war im April 2019 von der Bundesregierung eingesetzt worden und sollte unter Leitung des früheren Ministerpräsidenten Brandenburgs Matthias Platzeck (SPD) Bilanz ziehen und Vorschläge zur Veränderung machen. Dabei ging es darum, die wirtschaftliche und soziale Katastrophe, die der Einzug des Kapitals im Osten bedeutete, in Floskeln verschwinden zu lassen. Sie bestimmten auch die Konferenz am 2. Juni, die unter Leitung des Brandenburger Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) stattfand. Von ihm war etwa zur ostdeutschen Wirtschaftsentwicklung zu erfahren: „Das Glas ist nicht halb leer, das Glas ist halb voll. Aber wir müssen weiter viel tun, damit sich dieses Glas füllt.“ Oder etwas gewunden: Bei erneuerbaren Energien habe man „einen Vorsprung gegenüber mindestens dem Durchschnitt der westdeutschen Länder“. Im Klartext: Der Osten ist mit Windkraftanlagen ziemlich vollgestellt, während westdeutsche Länderchefs zumeist streng darauf achten, ihre Bürger optisch damit nicht zu belasten.

Einige „harte“ Fakten finden sich immerhin im Bericht: So waren von den DDR-Erwerbstätigen des Jahres 1989 im Jahr 1993 zwei Drittel nicht mehr in ihrem Beruf, in höheren Leitungspositionen waren es sogar 90 Prozent. Die Zahl der Erwerbstätigen sank um etwa zwei Millionen. Der gewerkschaftliche Organisationsgrad liege bei 20 Prozent, was die niedrigeren Durchschnittslöhne erkläre. Das habe „die Funktionsweise sowie die Akzeptanz der sozialen Marktwirtschaft geschwächt“. Ostdeutsche Frauen seien besonders betroffen: Ihr Beschäftigungsgrad sank von 91 Prozent im Jahr 1990 (BRD rund 50 Prozent) auf 57 Prozent im Jahr 1996.

Eine Folge der Deindustrialisierung waren demnach Verdrängung und Abwanderung. Laut Kommission zog es per Saldo „etwa zwei Millionen Ostdeutsche in die alten Länder“ – mehrheitlich gut ausgebildete junge Menschen und vor allem junge Frauen. 2030 werden 31 Prozent der Ostdeutschen älter als 65 Jahre sein (West: 25,6 Prozent), 1990 waren es 14 Prozent (West: 15,2 Prozent). 34 Prozent der Ostdeutschen wohnen heute in Gegenden mit geringer Besiedlung, im Westen sind es 23 Prozent.

Eine besonders charakteristische Konsequenz all dessen ist die „Minderrepräsentation“ der Ostdeutschen in Führungspositionen. Am 2. Juni erklärte Woidke dazu, das gelte auch für Ostdeutschland selbst, für kleinste Behörden ebenso wie fürs Bundesverfassungsgericht. Laut Kommissionsbericht werden im Osten nur 25 Prozent der Spitzenpositionen in Verwaltung, Justiz, Medien, Wirtschaft und Wissenschaft von Ostdeutschen besetzt (bei einem Bevölkerungsanteil von 85 Prozent). In der gesamten Bundesrepublik sind Ostdeutsche in den Spitzen von Justiz, Wirtschaft und Bundeswehr besonders unterrepräsentiert (ein bis zwei Prozent) – bei einem Bevölkerungsanteil von 17 Prozent.

Die Liste lässt sich erweitern. Sie demonstriert: Zerstört das Kapital eine hochindustrialisierte Gesellschaft, trifft dies vor allem deren Arbeiterklasse. Nicht nur die amtierende Bundeskanzlerin dürfte darin ein Modell für künftige Klassenkämpfe sehen.

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"Umbruchmodell Ost", UZ vom 11. Juni 2021



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