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Per Whatsapp-Nachricht informiert Nermin (Name geändert) die Jugendlichen aus der Erstaufnahmeeinrichtung und die Aktivisten einer Unterstützerinitiative: „Unser Taschengeld ist da! Endlich haben wir Fahrkarten!“ Dieses Taschengeld ist gesetzlich vorgeschrieben, um das Existenzminimum zu sichern. Die Behörden hatten es den „begleiteten Unbegleiteten“ – minderjährige Flüchtlinge, die ohne Eltern, aber gemeinsam mit anderen Verwandten nach Deutschland kommen – bisher nicht ausgezahlt. Das Taschengeld, das die Jugendlichen nun in der Hand halten, haben sie sich selbst erkämpft.
Die Jugendlichen haben gezögert und gezweifelt, bevor sie an die Öffentlichkeit gehen. Warum zahlt die Behörde nicht? Haben die jungen Bewohner einer Flüchtlingsunterkunft ein Recht dazu, dagegen zu protestieren? Wenn sie sich wehren, werden sie dann Nachteile im Asylverfahren haben? Aktivisten einer Initiative unterstützen sie beim Protest. Erst durch diesen Schritt zeigt sich, wie vielen jungen Flüchtlingen in Hessen ein Teil ihrer Grundversorgung vorenthalten wird: Die „Frankfurter Rundschau“ berichtet am 3. Juni, dass laut einer Diakonie-Mitarbeiterin wahrscheinlich hunderte Minderjährige in Hessen kein Taschengeld erhalten haben. Die Diakonie weiß das seit Monaten, die Behörden auch: Die Jugendlichen haben jede Woche nach dem Geld, das ihnen zusteht, gefragt. Weder Behörden noch Diakonie sind daran interessiert, das Problem zu lösen oder zu skandalisieren – bis sich die Jugendlichen einer Erstaufnahmeeinrichtung zusammenschließen und den Mut aufbringen, sich öffentlich zu äußern. In ihrer Einrichtung leben zeitweise 1 700 Menschen, die Jugendlichen suchen andere Betroffene, sprechen mit ihnen über den Anspruch auf Taschengeld und bitten sie, sich gemeinsam mit ihnen für das Taschengeld einzusetzen.
Nermin, eine 16 Jahre junge heranwachsende Frau aus Afghanistan, ist vor sechs Monaten mit ihrer Tante und deren Familie nach Deutschland gekommen. Sie wurde der Hessischen Erstaufnahmeeinrichtung (HEAE) in Gießen zugeteilt. Bei ihrer Registrierung gibt sie an, dass sie ohne Eltern, aber in Begleitung ihrer Tante geflüchtet ist.
Für Minderjährige, die nicht von ihren Eltern begleitet werden, ist das Jugendamt zuständig. Das weiß auch die HEAE. Es ist nicht erlaubt, diese Jugendlichen in Erstaufnahmeeinrichtungen aufzunehmen. Die Einrichtung ist dazu verpflichtet, das Jugendamt zu informieren, dass sich ein unbegleiteter Minderjähriger bei ihnen regis-triert hat und muss das Kind oder den Jugendlichen in eine andere Einrichtung bringen. Das tun sie häufig nicht – schon deshalb, um den „Unbegleiteten“ nicht von seinen Verwandten trennen zu müssen. Das Jugendamt muss dann prüfen, ob das Amtsgericht einen Vormund bestellen soll nicht. Wenn kein Vormund bestellt wird, bleibt die Frage: Wer ist für dieses Kind, diesen Jugendlichen zuständig? Welche Behörde zahlt das Taschengeld?
Wir fragen bei der HEAE nach. Die Mitarbeiterin, die für Leistungen zuständig ist, lässt sich nicht davon beeindrucken, dass sie von Minderjährigen spricht, die seit Monaten nicht das Geld bekommen, das sie brauchen, um ihr Existenzminimum zu sichern. Sie erklärt: Die HEAE zahlt Taschengeld an Jugendliche, die einen Vormund haben. Die anderen fallen in die Zuständigkeit der Jugendämter. Wenn die Einrichtung die Verwandten bei der Registrierung nicht darauf hinweist und das Jugendamt nicht informiert, dann bekommen die „begleiteten Unbegleiteten“ kein Taschengeld.
Wir rufen beim Frankfurter Jugendamt an. Dort weiß man, dass es diese Jugendlichen in der Einrichtung gibt. Die Jugendlichen sagen uns, dass das Jugendamt sogar ein eigenes Büro in der Einrichtung hat. Dort ist nie jemand zu sprechen.
Nun berichten die Medien darüber, dass hessische Behörden jungen Flüchtlingen das Nötigste vorenthalten. Ein paar Tage später reagiert das Land: Zuständig seien zwar die Jugendämter, nun werde das Land zahlen – „aus Kulanz“, verkündet eine Ministeriumssprecherin. Die Jugendlichen haben ihr Geld in der Hand. Sie haben gelernt, dass es sich nicht lohnt, auf die „Kulanz“ der Behörden zu hoffen und dass die Angst vor diesen Behörden ein schlechter Ratgeber ist.