Im September begann im Gebiet Cherson eine seit Mai angekündigte Gegenoffensive der ukrainischen Armee (UAF) gegen die russische Armee und die Streitkräfte der Volksrepubliken Donezk und Lugansk. Zunächst erzielte Kiew minimale Geländegewinne. Erfolgreicher war seine Gegenoffensive im Gebiet Charkiw. Aus diesem Gebiet zogen sich die Streitkräfte der Volksrepubliken und Russlands in mehreren Etappen fast komplett zurück, um Einkreisungen zu entgehen. Anfang Oktober drang die ukrainische Armee mit erneuten Vorstößen im Süden auch im Gebiet Cherson weit vor. Selenski gab dort die Rückeroberung von 500 Quadratkilometern bekannt. Als Gründe für die Rückzüge der prorussischen Streitkräfte nannten Militärreporter personelle Unterlegenheit und die Schonung des Lebens der eigenen Soldaten. Die ukrainische Armee verlor in ihren Offensiven allein im September geschätzte 20.000 Soldaten.
Etwa zur gleichen Zeit votierten in den Gebieten Lugansk, Donezk, Cherson und Saporischja große Mehrheiten für den Beitritt zur Russischen Föderation. Moskau kündigte die Teilmobilisierung von 300.000 Reservisten an. Die Referenden, die Prozeduren ihrer Anerkennung und das Anlaufen der Teilmobilisierung boten einen merkwürdigen Gegensatz zu den ukrainischen Geländegewinnen auf dem „Schlachtfeld“. Die Mobilisierten treffen nicht sofort an der Front ein. Die Rückzüge lieferten die prorussische Bevölkerung verlassener Orte der Rache des SBU und ukrainischer Truppenteile aus. Das löste in Russland heftige Diskussionen aus. Scharfe Kritik an der Militärführung wurde sogar in sonst regierungstreuen Talkshows artikuliert.
Bei der Kiewer Regierung und in NATO-Kreisen lösten die Geländegewinne der UAF einen Siegestaumel aus. Unter der Überschrift „So könnte der Krieg enden“ zitierte t-online vom 7. Oktober den früheren Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte in Europa, Ben Hodges, der sich überzeugt zeigte, dass die Russen von der Krim fliehen werden, sobald ihre Stützpunkte in Reichweite der ukrainischen Artillerie seien. Der Osteuropaexperte Timothy Snyder deutete die Kritik Kadyrows und Prigoschins an den Rückzügen als einen Machtkampf mit Putin, der mit dem Regime Change in Moskau enden könne. Der Machtkampf werde „einen Rückzug aus der Ukraine nötig machen“. Am 8. Oktober twitterte Andrij Melnyk über einem Foto der explodierenden Krim-Brücke: „Shaka laka boom boom! Die Befreiung der Krim beginnt JETZT!“
Brian Berletic, geopolitischer Blogger aus Thailand und früherer US-Marine, verweist auf folgende Realitäten: Die Geländegewinne der ukrainischen Armee sind nicht nachhaltig. Sie werden unter großen Verlusten an Menschen und Material erzielt. Beides kann nicht so schnell ersetzt werden, wie es derzeit zerstört wird. Das gilt auch für die Waffenlieferungen des Westens: Die Mengen gelieferter Waffen sind in kurzer Zeit verbraucht, im Westen selbst wird die Munition knapp. Sie zu reproduzieren, benötigt Zeit. Die durch die Teilmobilisierung nach und nach verstärkten russischen Truppen werden auf eine überdehnte, erschöpfte ukrainische Armee treffen.
Die ukrainischen Offensiven im Nordosten und Süden zielten auch darauf, russische Kräfte vom Hauptkampfgebiet Donbass abzuziehen. Dort rücken prorussische Streitkräfte auf die für das ukrainische Verteidigungssystem zentrale Stadt Bachmut vor. Auch die UAF konzentriert dort mit 30.000 Mann ihr größtes Kontingent.
Militärisch nicht nachhaltig, erzielten die ukrainischen Offensiven vor allem politische Erfolge: Der NATO wurde gezeigt, dass Waffenlieferungen sich lohnen. In das prorussische Lager wurde Unsicherheit getragen. Die Offensiven legten reale Schwächen Moskaus offen: Mängel in der militärischen Vorbereitung und eisernes Schweigen statt Benennung und rasche Lösung von Problemen. Putin sitzt aber fest im Sattel.