Das linker Verschwörungstheorien unverdächtige „Aspen Institute“ schätzt die Zahl der durch Mietkündigung gefährdeten Personen in den USA auf 15 Millionen. Die Zahl der von Zwangsversteigerung bedrohten Haushalte wird auf rund zwei Millionen beziffert. Im Herbst 2019 rutschte die US-Wirtschaft in die Rezession. Als dann die Covid-19-Welle mit Lockdowns und der Unterbrechung der Produktions- und Lieferketten sowie der Stilllegung großer Teile des Transportwesens und des Einzelhandels die Krise enorm verstärkte, erreichten die Arbeitslosmeldungen schwindelnde Höhen; Hunderttausende kleiner Geschäfte und Unternehmen standen und stehen vor dem Ruin. Mieter können ihre Miete nicht mehr zahlen, Eigenheimbesitzer ihre Hypotheken nicht bedienen.
Schon die Trump-Regierung hatte die Brisanz der Entwicklung erkannt und im Kontext des ersten Corona-Hilfsprogramms, des „CARES Act“, ein Moratorium für Zwangsvollstreckungen und Mietkündigungen („Foreclosure and Eviction Ban“) erlassen – zunächst für vier Monate. Dann – so die Idee – sei die Krise vorbei. Diese Maßnahmen waren immer wieder verlängert worden, auch durch die Seuchenkontrollbehörde CDC. Dagegen waren Klagen beim Supreme Court, dem Obersten Bundesgericht, anhängig. Gleichzeitig hatte sich die Biden-Regierung geweigert, die Moratorien selbst zu verlängern, und hatte dem Kongress den Schwarzen Peter zugeschoben. Der sollte eine neue gesetzliche Grundlage schaffen, welche dem CDC die Fortschreibung des Moratoriums erlauben sollte. Das Gleiche war auch vom Supreme Court gefordert worden. Das Repräsentantenhaus versuchte eine Art Showeinlage in buchstäblich letzter Minute – und scheiterte. Danach befanden Pelosi, Schumer & Co.: Genug malocht. Wir fahren erst einmal in Urlaub. Schicksal, take your way.
Dieser nonchalanten Art, welche die abrupte Obdachlosigkeit von Millionen US-Bürgern billigend in Kauf nahm, mochten sich allerdings nicht alle Kongressabgeordneten, in diesem Fall vor allem die Frauen, anschließen. Die demokratische Abgeordnete Cori Bush kampierte mit anderen Aktivisten auf der Treppe des Kapitols, um auf das programmierte Desaster aufmerksam zu machen. Sie hatten Erfolg, wenn auch nur begrenzt. Das CDC machte eine Kehrtwende und beschloss – ganz ohne gesetzliche Grundlage – den „Eviction Ban“ bis zum 3. Oktober fortzuschreiben. Allerdings nur für Gebiete mit „substanzieller oder hoher Covid-19-Übertragung“. Das gilt angeblich für rund 80 Prozent des US-Staatsgebiets. Für rund 20 Prozent existiert schon jetzt kein Schutz mehr. Die ersten Hinauswürfe gibt es bereits. Unklar ist zum einen, wie jetzt der Supreme Court handeln wird, zum anderen, was nun mit den drohenden Zwangsvollstreckungen wird, und zum dritten, wie es nach dem 3. Oktober weitergehen soll.
Ein Auslaufen des „Foreclosure and Eviction Bans“ hätte vor allem in Corona-Zeiten katastrophale Folgen. Zu den Hunderttausenden Obdachlosen, die ohnehin schon auf den Straßen der großen US-Städte kampieren, kämen weitere Hunderttausende, womöglich Millionen hinzu – ohne Sicherstellung hinreichender Hygiene, Gesundheitsfürsorge, Nahrungsmittelbeschaffung, Sozial- und Schulbetreuung und ausreichenden Abstands. Es ist schon beeindruckend, dass die Biden-Regierung und die demokratische Kongressmehrheit dieses Szenario achselzuckend akzeptiert hatten.
Die bisherige Moratoriumstrategie birgt allerdings auch keine Lösung des Problems – wie auch, nebenbei gesagt, die US-Krisenstrategie insgesamt nicht. Die durch die Krise ausgelösten Miet- und Hypothekenschulden akkumulieren sich. Die Mieter sind zusätzlich noch von Strafzinsen wegen zu spät gezahlter Mieten bedroht. Die Moratorien verschieben die Probleme nicht nur in die Zukunft, sondern sie vergrößern sie auch noch. Über 72 Prozent der vermieteten Immobilien sind im Besitz von individuellen Eigentümern. Die Immobilienkosten, Hypotheken, Steuern, Versicherungen, der Unterhalt und die Reparaturen laufen weiter. Milliarden an Fehlbeständen haben sich bereits angesammelt. Wenn die Vermieter zahlungsunfähig werden, trifft es Banken und andere Finanzierungsinstitute. Kredite werden faul, Banken geraten in Schieflage. Noch unter Trump wurde das 47 Milliarden US-Dollar schwere „Emergency Rental Assistance Program“ ins Schaufenster gestellt, das in Zahlungsschwierigkeiten geratenen Mietern und Vermietern unter die Arme greifen sollte. Das Geld liegt aber, wie in neoliberalen Zeiten üblich, eben nur im Schaufenster – ausgezahlt wurden lediglich drei Milliarden Dollar.
Laut Federal Reserve lag die gesamtgesellschaftliche Verschuldung (Staat, Unternehmen, Privatleute) der USA im ersten Quartal 2021 bei 84,5 Billionen US-Dollar. Das entspricht in etwa dem Vierfachen des Bruttoinlandsprodukts der USA. Es ist jenseits aller Möglichkeiten, diese Verschuldung abzutragen. Sie hat sich im Gegenteil im Krisenzyklus seit dem Jahr 2000 vervielfacht. Ohne einen radikalen Schuldenschnitt, gewissermaßen als Basisvoraussetzung, wird die US-Gesellschaft nicht aus ihrer schweren Wohnungskrise – wie auch aus der Krise insgesamt – herausfinden können. Das aber läuft den Profitinteressen der Ultrareichen, der 0,1 Promille, diametral entgegen. Sie sind die Gläubiger dieser gigantischen Verschuldung. Je höher die Verschuldung, umso größer der Profit.