In den 1960er Jahren gab es in der DDR (größtenteils in der Zeitschrift „Wirtschaftswissenschaften“) eine aufschlussreiche Diskussion über die Messbarkeit der Arbeitszeit und das Problem der Reduktion der Arbeit, das heißt, wie sich qualifizierte Arbeit konkret als multiplizierte einfache Arbeit darstellen lässt.
Johannes Rudolph begann die Diskussion mit der spitzen Frage, wie man denn den Nutzen eines Produkts bestimmen könne, „wenn man die Wertgröße, d. h. den gesellschaftlichen Arbeitsaufwand, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, nicht kennt?“ Das war ein Hieb gegen die „allgemein anerkannte These, dass im Sozialismus die Preise der Waren planmäßig abweichend vom Wert festgesetzt würden“.
Während ihm einige Kollegen beipflichteten, gab es aber auch heftigen Gegenwind. Fritz Behrens etwa meinte, in einer Warenproduktion, die nach seiner Auffassung ja im Sozialismus herrscht, könne der Wert eben nur an der Geldware erscheinen. Beides, Wertrechnung (= Geldrechnung) und Zeitrechnung – er hatte dabei allerdings nur die lebendige Arbeit im Auge – sei nötig. Harry Nick vertrat entschieden die Auffassung, nur Wertrechnung sei möglich. Und schließlich erklärten andere Autoren, Wert sei ein rein gesellschaftliche Kategorie, die nur im Tausch erscheint – eine Position, die heute in der „Neuen Marxlektüre“ fröhliche Urstände feiert.
Allerdings gingen auch die Arbeitszeitrechner vom Sozialismus als einer Waren produzierenden Produktionsweise aus, in der das Wertgesetz wirkt. So schlugen sie z. B. vor, zuerst den durchschnittlichen Zeitaufwand für die Produktion eines Gramms Gold zu bestimmen, um ein unabhängiges Wertmaß zu bekommen, dann den Zeitaufwand für die anderen Produkte, und schließlich ihren Goldpreis im Verhältnis zum Wertmaß berechnen. Es haperte natürlich am zweiten Schritt, denn das ist ja das eigentliche Problem. Das Preisproblem wurde bis zum Ende der DDR nicht befriedigend gelöst. Diese Probleme auf der Ebene der Wirtschaftsrechnung verweisen auf ein tiefer liegendes politökonomisches Problem: das Verhältnis von Plan und Markt.
Das Verhältnis von Plan und Markt
Das Konzept der sozialistischen Warenproduktion versucht, Plan und Markt zu versöhnen. Doch unter planwirtschaftlichen Bedingungen nach Beachtung des Wertgesetzes zu rufen, ist ein Widerspruch in sich. Der Wert eines Produkts wird erst im Tausch ans Tageslicht geholt. Zur Planwirtschaft gehört unhintergehbar das Gemeineigentum. Auch ein sozialistischer Eigentümer kann nicht mit sich selbst tauschen. Zum Tausch bedürfte es unabhängiger (privater) Eigentümer mit einem freien Markt als Medium. Diese Konsequenz konnte man aus politischen Gründen natürlich nicht ziehen. So blieb es bei einer Situation, in der sich weder die destruktive Kraft des Kapitalismus noch die Vorzüge einer Planwirtschaft durchsetzen konnte.
Dass Produkte gesellschaftlicher Arbeit hinsichtlich der in ihnen verausgabten Arbeitszeit ins Verhältnis gesetzt werden, ist eine Grundbedingung jeglicher Ökonomie der Zeit. In der kapitalistischen Produktionsweise wird dies, geldvermittelt, durch den freien Austausch auf dem Markt realisiert. In einer Planwirtschaft kommt man nur zu einer rationalen Bewertung der Produkte, indem man die in den Produkten steckende Arbeitszeit direkt bestimmt.
Aber tauschen sich die Produkte überhaupt zu ihren Werten aus? Die Arbeitswerttheorie (AWT) ist – auch unter Marxisten – umstritten. Hinzu kommt, dass wir bei Marx – wenn man so will – zwei Varianten der AWT findet: eine im Band I, wonach sich Waren zu ihren tatsächlichen Arbeitswerten austauschen, und eine im Band III, wo er von einer einheitlichen Profitrate ausgeht – mit der Konsequenz, dass sich dann die Waren nicht mehr zu ihren Werten austauschen können, sondern, wie er meinte, zu ihren Produktionspreisen. Die Arbeitswerttheorie ist zwar als wissenschaftlich überprüfbare These formuliert, aber solange sie nicht auf den Prüfstand der Empirie gestellt werden konnte, blieb ihre Validität eben in gewisser Hinsicht eine offene Frage. Das sieht heute ein bisschen anders aus – und dies nicht unwesentlich auch dank der IT.
Stand der Wissenschaft und Technik heute
Zumindest zwei Ereignisse in den 1980er Jahren brachten Bewegung in die Diskussion.
Da ist zum einen ein Buch zweier israelischer Mathematiker, Emmanuel Farjoun und Moshé Machover, zu nennen, das sich aus heutiger Sicht als epochal herausstellte. Hinter dem Titel „Laws of Chaos“ (Emmanuel Farjoun und Moshé Machover) verbirgt sich ein neuer Blick auf den kapitalistischen Reproduktionsprozess. Sie behandelten diesen in Analogie etwa zur Thermodynamik von Gasen als chaotisches System mit hohen Freiheitsgraden und legten damit den Grundstein für eine Betrachtungsweise der Ökonomie, die sich heute als „Econophysics“ zu etablieren beginnt. Farjoun/Machover fassen Preise, Werte, Profitraten, usw. als Zufallsgrößen auf, deren Verhalten sie statistisch untersuchen.
Und in den 1980er Jahren wurde es möglich, die Arbeitswerttheorie empirisch zu überprüfen. Mit Hilfe der Computertechnik konnte man die erforderlichen Datenmengen verarbeiten.
Es zeigte sich, dass die Waren sich tatsächlich zu ihren Arbeitswerten austauschen. In zahlreichen Untersuchungen, auch für Deutschland, wurde eine hohe Korrelation zwischen Preisen und Arbeitswerten festgestellt. Und es bestätigte sich, was Farjoun/Machover vorhergesagt hatten, dass nämlich die seit Marx übliche Annahme einer einheitlichen Profitrate nicht haltbar ist. Kapitale mit einer höheren organischen Zusammensetzung haben systematisch niedrigere Profitraten. Insgesamt passt die Arbeitswerttheorie im Sinne von Band I des „Kapita“ besser zur Realität als die von Band III. Diese Ergebnisse kamen leider zu spät für die Bemühungen in den sozialistischen Ländern um wertgerechte Preise, denn genau diese von Marx angenommene „Modifikation des Werts“ wurde als ein Argument gegen die Verwendung von Preisen, die dem gesellschaftlichen Aufwand entsprechen, genommen.
Es liegt also kein Grund vor, nicht die Produkte gemäß der in ihr enthaltenen Arbeitszeit ins Verhältnis zu setzen.
Planung mit Arbeitszeitrechnung
Drei mächtige Werkzeuge, die erst durch Computertechnologie ihre Wirkung entfalten können, sind zu nennen
1. Input-Output-Analyse: Eine Input-Output-Tabelle ist ein quadratisches Schema, bei dem in den Spalten die Vorleistungen (die Inputs für einen Sektor oder ein Produkt) und in den Zeilen die produzierten Mengen (Outputs) dargestellt werden. Das Interessante daran ist, dass sich aus den physischen Vorleistungen und den direkten Arbeitszeiten (beides ist in jeder Produktionsstätte bekannt) die in den Produkten enthaltene Gesamtarbeitszeit berechnen lässt.
2. Lineare Optimierung: Der schönste Plan nützt nicht viel, wenn die Ressourcen nicht oder nur in begrenztem Umfang da sind. Eine Methode zur besten Ausnutzung von Ressourcen wurde 1939 vom sowjetischen Mathematiker Leonid Kantorowitsch gefunden. Bei der Linearen Optimierung geht es darum, ein Maximum oder ein Minimum einer linearen Funktion zu finden, die einer Reihe von einschränkenden Bedingungen unterliegt. Nebenbei widerlegte Kantorowitsch dabei die Behauptung der Österreichischen Schule (Mises, Hayek), wonach Wirtschaftsrechnung nur in Geldgrößen möglich sei, denn bei den ersten ihm vorgelegten Problemen ging es um die Maximierung oder Minimierung physischer Größen. Leider ist Lineare Optimierung (im Unterschied zur Input-Output-Rechnung) rechentechnisch ungünstig.
3. Neuronale Netze: Auch Modelle, die neuronale Netze simulieren, können von Nutzen für die industrielle Planung sein. Dabei repräsentieren die Neuronen die Industrien und die Synapsen die Verbindungen zwischen den Industrien. Minimiert wird dann eine reellwertige so genannte Harmonie-Funktion, die misst, wie dicht die Outputs am Planziel liegen. Dabei wird Überfluss milde, Mangel streng bewertet.
Was in den sozialistischen Ländern bzw. der DDR davon genutzt wurde
Die Anwendungen der Input-Output-Analyse (in den sozialistischen Ländern Verflechtungsbilanzen oder intersektorielle Bilanzen genannt) und der Linearen Optimierung blieben in der DDR bzw. den sozialistischen Ländern weit hinter ihren Möglichkeiten zurück, obwohl ihre Ursprünge in der Sowjetunion lagen. Hauptinstrument gesellschaftlicher Planung blieb die materielle Bilanzierung, also die Gegenüberstellung von Gesamtprodukt und einzelnen Posten seiner Verwendung in physikalischen Größen. Regelmäßig erstellte Input-Output-Tabellen wurden hauptsächlich für Strukturanalysen verwendet und in monetären Größen dargestellt. Es gab in der DDR aber auch Natural-Wert-Tabellen, die für die Perspektivplanung eine Rolle spielten. Lineare Optimierung wurde in bescheidenem Umfang auf betrieblicher Ebene (Optimierung von Produktionsplänen und Materialökonomie) eingesetzt. Die größten Erfolge gab es in der Optimierung des Transportwesens der DDR. Aber insgesamt wurde schon für die 1970er Jahre eine große Diskrepanz zwischen theoretischem Wissen und praktischem Einsatz festgestellt.
Arbeitszeitrechnung in der kommunistischen Produktionsweise
Es ist den schottischen Wissenschaftlern Paul Cockshott und Allin Cottrell zu verdanken, dass der in Vergessenheit geratene Gedanke der Arbeitszeitrechnung in ihrem Buch „Towards a New Socialism“ (deutsch: Paul Cockshott und Allin Cottrell, Alternativen aus dem Rechner, PapyRossa Verlag, 2012), jetzt und unter viel günstigeren Bedingungen wieder in die Diskussion gebracht haben. Über ihre Hoffnung, Ende der 1980er Jahre, damit zur Verteidigung der Planwirtschaft beitragen zu können, ging die Geschichte hinweg.
Sie entwickeln darin zusammenhängende Vorstellungen über eine kommunistische Produktionsweise mit dem Kern einer zentral organisierten Planwirtschaft auf der Basis von Arbeitszeitrechnung und unter Nutzung moderner Technik. Unter kommunistischer Produktionsweise ist das gemeint, was Marx in der Kritik des Gothaer Programms als erste Phase des Kommunismus bezeichnet hat: Es herrscht noch das Leistungsprinzip, aber es gibt keine Warenproduktion mehr. („Sozialismus“ verwendeten Marx und Engels nicht im Sinne einer Produktionsweise.)
Die gesellschaftlichen Konsequenzen ihrer Überlegungen wären tiefgreifend: radikale Gleichheit, direkte Demokratie (die antike Agora ist wieder möglich!), kulturelle Revolution, Veränderung der Lebensweise in den Kommunen.
Ich kann hier nur auf einige Punkte im Zusammenhang mit dem Planungsprozess eingehen. Die Planung der Abteilung I (Produktionsmittel) stellt ja noch nicht den ganzen Reproduktionsprozess dar. Zum Zusammenspiel von Abteilung I und Abteilung II greifen C & C den Vorschlag von Marx aus der Kritik des Gothaer Programms auf, wonach der Arbeiter per Arbeitsschein „dasselbe Quantum Arbeit, das er der Gesellschaft in einer Form gegeben hat,…. in der andern zurück“ erhält (MEW, Bd. 19, S. 20).
Verteilung der Konsumgüter
Der Planungsprozess für Konsumgüter ist nicht so einfach wie im Produktionsmittelbereich, weil der Nutzen nicht so einfach feststellbar ist.
Cockshott und Cottrell schlagen vor, dass jedes Konsumgut mit zwei Angaben ausgezeichnet werden, sagen wir, ein Etikett, auf dem das tatsächliche Arbeitszeitquantum steht, d. h. wie viel Arbeitszeit die Herstellung tatsächlich gekostet hat, und einem so genannten Gleichgewichtspreis. Beides ist in Arbeitszeiten angegeben. Was bedeutet Gleichgewichtspreis? Man spricht von Gleichgewicht, wenn gerade so viel produziert wie nachgefragt wird. Das wird wahrscheinlich selten der Fall sein. Der Gleichgewichtspreis gibt sozusagen die Abweichung von diesem Gleichgewicht an. Übersteigt die Nachfrage das Angebot, wird der Preis so angehoben, dass der Nachfrageüberhang ausgeglichen wird. Das Verhältnis Gleichgewichtspreis/Arbeits“wert“ ist dann größer als 1. Entsprechend wird das Verhältnis kleiner als 1, wenn die Nachfrage das Angebot unterschreitet. Daraus folgt die Planungsregel: Erhöhe das Produktionsziel für Produkte mit einem Verhältnis größer als 1, verringere es bei einem Verhältnis kleiner als 1. Auf diese Weise wird das Verhältnis von Gleichgewichtspreis und Arbeitszeitquantum durchschnittlich auf 1 gehalten. Man beachte: der tatsächliche (Arbeitswert-)Preis ist bekannt. Das heißt, die Konsumenten wissen: Wenn der Gleichgewichtspreis höher als der Arbeitspreis ist, wird er auf den Arbeitspreis zurückgehen, wenn man wartet.
Wie die qualifizierte Arbeit bewerten?
Es ist klar, dass die Arbeit eines Fließbandarbeiters der einer Ingenieurin ökonomisch nicht einfach gleichgesetzt werden kann. Wir erinnern uns an die Antwort von Marx: Komplizierte Arbeit ist multiplizierte einfache Arbeit.
Die in der Qualifikation einer Arbeitskraft steckende geronnene Arbeit lässt sich analog der in einer Maschine steckenden geronnenen Arbeitszeit berechnen. Dazu muss man einschätzen, welche Arbeitszeiten in welchen Institutionen in die Qualifikation eingeflossen sind. Bei der Qualifikation einer Ingenieurin heißt das also: soundsoviel Professorenstunden, soundsoviel Stunden von Bibliotheksarbeitern usw. Wenn man also auf diese Weise die in einer Qualifikation steckende Arbeitszeit abgeschätzt hat, dann kann man – je nachdem auf wie lange man die Zeit bis zu ihrem Verschleiß, 10, 15, oder 20 Jahre angibt – eine Übertragungsrate auf die lebendige Arbeit bestimmen, genauso wie bei der Wertübertragung einer Maschine. Und diese Übertragungsraten werden dann in der Planung natürlich berücksichtigt. Keineswegs folgt daraus jedoch eine andere Bezahlung. Politökonomisch folgt keineswegs, dass eine Ingenieurin eine höhere Partizipation genießt als ein Fließbandarbeiter. Die Gesellschaft hat ja die Qualifikation bezahlt.
Allein die kulturrevolutionären Konsequenzen, die eine gleiche Partizipation mit sich bringt, müssten überleiten zu den Fragen des gesellschaftlichen Überbaus. Dies muss aber einem weiteren Vortrag vorbehalten bleiben.