Als Donald Trump die NATO für „obsolet“ befand und auch sonst kein gutes Haar ließ an den Mitkämpfern für „Freedom & Democracy“, da konnte man das noch den erratischen Allüren des milliardenschweren Selbstdarstellers im Weißen Haus zuordnen. Nach „The Donald“ würden sich die Dinge wieder einrenken und man könnte mit Joseph Biden dort weitermachen, wo man mit Barack Obama aufgehört hatte. Dann aber attestierte Emmanuel Macron: „Was wir derzeit erleben, ist der Hirntod der NATO.“ Es gebe „keinerlei Koordination bei strategischen Entscheidungen zwischen den USA und ihren NATO-Verbündeten.“ Man fände sich „das erste Mal mit einem amerikanischen Präsidenten wieder, der unsere Idee des europäischen Projekts nicht teilt“. Das kam aus dem inneren Zirkel der EU. Der US-amerikanische MAGA-Unilateralismus (Make Amerika Great Again), der ökonomische und politische Aufstieg der Volksrepublik China, die beeindruckende Verteidigungstechnik Russlands sowie die strategische Partnerschaft der eurasischen Hauptmächte Russland, China und Iran hatten die alten NATO-Selbstgewissheiten erschüttert. Das ließ die Alarmglocken schrillen.
Eine „Expertengruppe“ (Reflection Group) unter dem Vorsitz von NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg und Ex-Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat nun so etwas wie ein Strategiepapier für die nächste Dekade, „NATO 2030: Vereinigt für eine neue Ära“, vorgelegt. Auf 67 Seiten wird versucht, die offensichtlich gewordenen Bruchlinien dieses Bündnisses dadurch zu übertünchen, dass die „russische Aggression“ und die „chinesische Herausforderung“ als militärische, ökonomische und technologische Bedrohung für den Herrschaftsanspruch des „Freien Westens“ in möglichst grellen Farben ausgemalt wird. Es gehe heute, genauer, seit 2014, wieder um „Großmachtkonkurrenz“ (Great Power Competition) gegen die erklärten Gegner Russland und China. Dabei wird klar, dass ein ausschließlich konfrontativer Ansatz, wie gegen Russland, gegenüber der Volksrepublik nicht zielführend sein kann. China stellt für viele Staaten des „Westens“ gerade auch in der Krise einen viel zu wichtigen Handelspartner und Investitionsstandort dar. China hat mit den ASEAN-Plus- und den APEC-Staaten weitreichende Handels- und Partnerschaftsabkommen geschlossen. Das Land treibt die bis nach Afrika und Lateinamerika reichende eurasische Integration mit der Belt-and-Road-Initiative voran. Zusammen mit der Schanghai-Kooperation (SCO) und der Zusammenarbeit der BRICS-Staaten ist damit ein friedlicher, auf Entwicklung und ökonomischen Austausch gerichteter Ansatz umrissen, auf den der immer stärker militärisch-repressiv ausgerichtete Westen keine konstruktive Antwort hat, den er aber schon aus ökonomischen Interessen auch nicht boykottieren oder eindämmen kann.
So geht es um die seit Längerem geforderte stärkere NATO-Präsenz im indo-pazifischen Raum. Die „Reflection Group“ möchte offenbar gern dabei sein, wenn die „Great Power Competition“ im Südchinesischen Meer militärische Formen annimmt. Andererseits hat die Entwicklung der russischen Waffentechnologie klar gemacht, dass man längerfristig auch militärisch verliert, wenn man technologisch in Rückstand gerät. Die NATO will daher dazu beitragen, den technologischen Vorsprung des Westens (so er denn existiert) zu erhalten. Wie das konkret gehen soll, wird allenfalls angedeutet.
Gegen Russland scheint die Marschrichtung klarer. Man habe es mit Russland sozusagen im Guten versucht, aber nach 2014, nach der „illegitimen und illegalen Annexion der Krim“, „der Giftgasattacke von Salisbury, dem Bruch des INF-Abkommens und weiterer aggressiver Aktionen“ habe man zu einer zweigleisigen Strategie der Abschreckung, kombiniert mit „Dialogbereitschaft“, zurückgefunden. Diese Beschuldigungen werden auch durch ständige Wiederholung nicht wahrer, und natürlich findet sich zu den politischen und strategischen Implikationen der NATO-Ostexpansion kein Wort. Es ist selbstredend das genuine Recht des „Westens“, seine Truppen, die im selbstlosen Einsatz „Freedom & Democracy“ in die Welt bomben, überall auf der Welt zu stationieren. Entsprechend sieht die „Dialogbereitschaft“ mit Russland aus. Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat kürzlich klargestellt, dass so etwas für Russland keinen Sinn mache und dass man dergleichen einfach lassen werde.
Außer den gebetsmühlenhaften Appellen an Geschlossenheit und die Beschwörung der glorreichen Vergangenheit findet sich für den Kampf der NATO-Strategen gegen die Bedrohung aus dem Osten in „NATO 2030“ wenig Konkretes. Klar ist aber, es soll weiter aufgerüstet werden. In den Dokumenten der Münchener „Sicherheits“-Konferenz wurde nach dem 2-Prozent- nun auch schon das 3-Prozent-Ziel kommuniziert. Kanonen statt Butter. Mit welchen absurden Argumenten auch immer.