Gedanken zum 8. Mai 2022

Überheblichkeit und Arroganz des Westens

Heinz Bilan

Sobald die Bundestagsparteien in eine Regierung eintreten, verschwimmen ihre unterschiedlichen Positionen vollständig. Selbst in den Wahlkämpfen stehen verschiedene politische Konzepte nicht mehr im Mittelpunkt. Verdeckt wird das durch vielerlei Schaumschlägerei. Die Autorinnen und Autoren des Schwerpunkts der aktuellen Ausgabe der „Marxistischen Blätter“ widmen sich deshalb den „Bundestagsparteien im Umbruch“. Beate Landefeld beschreibt die Entstehung und Funktion von politischen Parteien im kapitalistischen System und Ekkehard Lieberam analysiert den letztjährigen Bundestagswahlkampf. Georg Fülberth beschäftigt sich mit der aktuellen Politik der Ampelkoalition und hält es für möglich, dass die Enttäuschung der breiten Massen mit ausbleibenden Reformen umschlägt „in eine besonders autoritäre Phase kapitalistischer Entwicklung“. Wir dokumentieren – redaktionell bearbeitet – den Beitrag von Heinz Bilan, gelernter Maschinenbauschlosser, der zuletzt im Rang eines Generalmajors stellvertretender Leiter der Militärakademie „Friedrich Engels“ der DDR war. Die „Marxistischen Blätter“ sind bestellbar beim „Neue Impulse Verlag“ – neue-impulse-verlag.de

Wieder ist Krieg in Europa und Deutsche sind erneut beteiligt, wie im Jugoslawienkrieg. Schon wieder wird – diesmal von der Scholz-Regierung – gegen Russland gehetzt und im Rahmen der NATO an der russischen Westgrenze auch von der Bundeswehr geschichtsvergessen zu Felde gezogen. Vergessen sind Stalingrad und die vernichtende Niederlage der 6. Armee unter Generalfeldmarschall Paulus. Wer 1939 und 1941 bewusst erlebt hat, kann sich ganz sicher auch an 1945 erinnern. Nach dem 8. Mai schallte es in ganz Deutschland – Ost wie West: „Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus! Nie wieder Faschismus!“ Aber auch das sagten nicht wenige: „Das haben wir nicht gewusst, das haben wir nicht gewollt.“ Heute kann sich niemand in Deutschland derart auf Unwissen berufen.

Ja, es ist ein grausamer Krieg, ein unentschuldbarer – eine Aggression. Aber jeder ernstzunehmende, friedliebende Mensch darf nicht aus dem Bauch heraus, leichtfertig urteilen. Man muss nach den Ursachen, nach den Zusammenhängen fragen, die zu diesem Krieg führten. Nur so kann man an die Wahrheit kommen und sich ein gerechtes Bild machen. Erst recht muss man das von den Politikern erwarten. Anders gibt es keinen Ausweg aus diesem Dilemma.

Falsche Versprechungen

Es begann, wie so oft, mit einer Lüge verantwortlicher Politiker aus den USA und der BRD. Der US-Außenminister James Baker versprach dem Präsidenten der UdSSR, Michail Gorbatschow, es würde nach der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten keine Osterweiterung der NATO geben. In einer vor wenigen Tagen wiederholten Fernsehsendung bestätigte Hans-Dietrich Genscher, der damalige Außenminister der BRD, dass die gleiche Aussage von Bundeskanzler Helmut Kohl und ihm selbst im Kaukasus Gorbatschow gegenüber getätigt wurde. Natürlich durfte dieser nicht so naiv sein, ohne Dokument daran zu glauben. Nur – diese Lüge darf nicht vergessen werden bei der Beurteilung der gegenwärtigen Lage. Herr Scholz aber handelt ganz im Sinne Konrad Adenauers: „Was interessiert mich mein Geschwätz von gestern.“

Wladimir Putin bot 2001 in seiner Rede vor dem Bundestag den Deutschen die Hand, wollte Freundschaft und gute Nachbarschaft. Bis heute keine Reaktion durch die Regierenden der BRD (vielleicht mit einer gewissen Ausnahme durch Altbundeskanzler Gerhard Schröder). Mehr noch – 2007 in München warnte der russische Präsident vor einseitiger Feindschaft gegenüber seinem Land. US-Präsident Barack Obama täuschte sich sehr, als er Russland zur „Regionalmacht“ stempeln wollte. Schon damals war dieses Land – wenigstens militärisch – eine Großmacht, deren Warnungen besser nicht in den Wind geschlagen werden sollten.

Die russische Militärdoktrin

Um es vor der ganzen Welt deutlich zu machen, erließ Putin 2014 die Militär- und die Marinedoktrinen, 2016 die Konzeption der Außenpolitik der Russischen Föderation. Ernstzunehmende Politiker und Militärs des Westens müssten diese Dokumente vollinhaltlich zur Kenntnis nehmen und – das ist noch wichtiger – richtig gewichten. Für jedermann sind sie im Internet zugänglich.

Im Punkt 22 der Militärdoktrin ist klar ausgesagt, dass die Russische Föderation die Obhutspflicht – einschließlich des Einsatzes der Streitkräfte – über alle außerhalb der Grenzen lebenden russischen Bürger übernimmt. Und in den Punkten 16 und 27 sind die entscheidenden Aussagen zum Einsatz der Kernwaffen gemacht. Russland ist kein Operettenstaat, den jeder, der es will, an der Nase herumführen kann. Und in Kiew, wo man des Russischen mächtig ist, schon gar nicht.

Politik in der Ukraine

Was aber taten die Ukrainer? Sie stürzten den rechtmäßig gewählten Präsidenten Janukowitsch. Am sogenannten „Euromaidan“ nahmen auch Bandera-Faschisten teil (so wie sie gemeinsam mit der ukrainischen Armee im Osten der Ukraine Bürgerkrieg gegen die eigenen Bürger führen). Unmittelbar nach dem Sturz Janukowitschs beschloss das ukrainische Parlament die Aufhebung des Russischen als Amts- und Schulsprache. Die Forderungen der Russen (in der Ukraine leben Millionen) wurden abgewiesen und ein Bürgerkrieg begonnen. Wen kann dann noch wundern, dass Russland den Punkt 22 seiner Militärdoktrin realisierte?! Wenn Putin heute über den Faschismus spricht, dann sollten Zweifler das Buch von Stanislaw Byschok und Alexej Kotschetkow „Der Euromaidan namens Stepan Bandera – von der Demokratie zur Diktatur“ lesen. Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine kann man nur richtig beurteilen, wenn man ihre gemeinsame Geschichte kennt. Die Ukraine erlangte ihre Staatlichkeit durch keinen Geringeren als W. I. Lenin.

Vor und während des Euromaidan wurden Menschen getötet – meist Russen. Wo war da der Westen, um gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren? Dann kam es – auch dank Angela Merkel und Emmanuel Macron – unter Teilnahme Russlands und der Ukraine zu den Minsker Verhandlungen. Und wieder fragt man sich: Wo waren die USA, die EU, die NATO, um die Ukraine zu veranlassen, das Beschlossene zu realisieren: Teilautonomie für den russischen Donbass, Wiederzulassung der russischen Sprache, Kommunalwahlen.

Die Rolle der NATO

Zum Schluss – absolute Überheblichkeit des Westens, Joseph Bidens, der NATO. Die berechtigten Wünsche Russlands für seine Sicherheit, besonders betreffs der Ukraine, des Aufmarsches der NATO-Truppen an der russischen Westgrenze werden abgeschmettert, als hätte man einen Schulbuben vor sich und nicht eine der beiden stärksten Atommächte dieser Welt. Wie hätten die USA reagiert, wenn Russland die amerikanischen Grenzen in Mexiko, Kuba, Nicaragua mit Truppen und Raketen bedrohen würde?! Woher nimmt sich die NATO das Recht, Militärberater (USA) in die Ukraine zu schicken, Waffen zu liefern, an Manövern in der Ukraine teilzunehmen?! Dazu noch hämische Ausreden, als könnte man mit Russland wie mit Grenada oder Libyen verfahren.

1813 bild2 - Überheblichkeit und Arroganz des Westens - Antifaschismus, Kriege und Konflikte, Russland, Ukraine - Hintergrund
(Foto: Schumann, Denkmale der Befreiung)

Besonders wir Deutschen haben gegenüber allen ehemaligen Sowjetrepubliken eine große Verantwortung. Man muss sich fragen: Wissen die jungen Bundeswehrangehörigen, dass für die Befreiung Deutschlands vom Hitlerfaschismus 27 Millionen Sowjetbürger ihr Leben verloren? Wissen sie, dass in diesem unseligen Krieg über acht Millionen Deutsche das Leben verloren? Ist ihnen klar, dass sie die Atommacht Russland herausfordern und einen Krieg gegen sie wohl nur sehr wenige überleben würden?

Eine weitere Ursache, die zur gegenwärtigen Konfrontation führte, ist die Ignoranz des Westens gegenüber den politischen, militärischen und juristischen Begleitumständen der Wiedervereinigung der Krim mit dem russischen Staat. Selbst Linke irren da gewaltig, wenn sie in das gleiche Horn blasen und von „Okkupation“ schwafeln. Wer es besser wissen will, dem sei das Buch „Die Krim auf ewig mit Russland“ von Sergej Baburin empfohlen. Die Linke darf sich nicht ins Schlepptau des Mainstreams nehmen lassen. Die Partei „Die Linke“ aber sollte sehr gründlich überlegen, warum ihre Haltung insbesondere zur Frage von Krieg und Frieden, zur NATO und ganz besonders zur deutschen Sozialdemokratie immer weniger Zustimmung findet. Diese ähnelt im Ukrainekonflikt ihren Vorfahren vor dem Ersten Weltkrieg und kann – wie damals – nicht unser Partner sein. Was der „Linken“ fehlt (zumindest bei vielen Führenden), ist der marxistische Klassenstandpunkt. Ohne diesen ist eine Politik – auch im Ukrainekonflikt – orientierungslos oder bourgeois.

Äußerungen wie „Die NATO hat jetzt alles richtig gemacht“ – so die Feststellung eines führenden Linke-Politikers – hätten auch von Herrn Stoltenberg stammen können. Das ist schon mehr als Realitätsverlust. Die USA, die NATO haben bei jedem Krieg in den letzten Jahrzehnten gelogen und betrogen. Sie haben Verbrechen begangen und mischen sich auch jetzt aktiv in den Konflikt in der Ukraine ein. Die NATO ist längst ein überflüssiges Bündnis, das krampfhaft nach Feinden sucht. Eine Reihe französischer und deutscher Generale haben sich sachlich zum Krieg geäußert. Auch US-Politiker wie ­Brzezinski und Kissinger haben sehr realistische Standpunkte vertreten. Zumindest auf sie sollten die Gegner Russlands hören.

Natürlich ist dieser Krieg ohne Wenn und Aber zu verurteilen. Seine Verursacher aber sitzen keinesfalls nur in Moskau. Die Opfer sind wie in jedem Krieg, gleich ob in der Ukraine, Jugoslawien, Irak, Libyen, Syrien oder Afghanistan, die vielen unschuldigen Menschen. Ihnen gilt unser ganzes Mitgefühl und, so möglich und notwendig, auch Unterstützung. Das gilt für alle unschuldigen Flüchtlinge dieser Welt. Es bleibt die Forderung: Ende dieses unsäglichen Bruderkrieges, Erfüllung der berechtigten russischen Sicherheitsforderung durch die USA, NATO und Ukraine, Ende der eingesetzten Militarisierung und Aufrüstung der NATO, besonders aber der BRD. Dazu gehört auch die Beendigung der faschistischen Umtriebe der Bandera-Gruppierungen in der Ukraine. Was die Welt jetzt braucht, sind sachliche, realitätsbezogene Politiker. Die Diplomatie hat den Vorrang vor dem Militär(un)-wesen. Wir Deutschen sollten uns nicht schon wieder missbrauchen lassen, uns aufhetzen lassen – nicht gegen die Russen, nicht gegen die Ukrainer und überhaupt gegen keines der Völker dieser Welt. Den Sowjetvölkern danken wir auch heute noch für die Befreiung Deutschlands und Europas vom Hitlerfaschismus. Wir haben die Pflicht, alles zu tun, damit Frieden herrscht, damit Freundschaft und Zusammenarbeit das internationale Klima bestimmen. Sich den Anforderungen auch solchen Klimawandels in der Welt zu stellen, statt Hass und Missgunst zu fördern – das ist unsere Aufgabe. Jeder von uns ist da gefragt.

Die sozialistische Militärwissenschaft definiert „Aggression“ wie folgt: „Völkerrechtswidriger Überfall eines Staates oder einer Koalition auf einen oder mehrere andere Staaten.“ Außer der militärischen gibt es ökonomische, ideologische, juristische und weitere „indirekte“ Aggressionen.

denkmale der befreiung spuren der roten armee in deutschland fotografien von fritz schumann sprache deutsch russisch - Überheblichkeit und Arroganz des Westens - Antifaschismus, Kriege und Konflikte, Russland, Ukraine - Hintergrund

Schumann, Frank
Denkmale der Befreiung – Spuren der Roten Armee in Deutschland
Mit Fotografien von Fritz Schumann
256 Seiten, 21,3 x 28,5 cm, gebunden, mit ca. 300 Abbildungen durchgängig farbig, zweisprachige Ausgabe in deutsch/russisch
Erhältlich im UZ-Shop, uzshop.de

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"Überheblichkeit und Arroganz des Westens", UZ vom 6. Mai 2022



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