Probleme und Widersprüche

Übergang zur Kriegswirtschaft?

Stephan Müller und Conny Renkl

Am vergangenen Wochenende hielt im Rahmen der 10. PV-Tagung in der Leverkusener Karl-Liebknecht-Schule Stephan Müller ein gemeinsam mit Conny Renkl verfasstes Referat zu den Problemen und Widersprüchen, denen sich der deutsche Imperialismus bei der Schaffung von „Kriegstüchtigkeit“ und beim Übergang zur Kriegswirtschaft gegenübersieht. UZ dokumentiert den Vortrag in gekürzter und redaktionell geringfügig überarbeiteter Form.

Die Frage nach dem Übergang zur Kriegswirtschaft zu stellen heißt nicht nur zu fragen, ob und wann der Krieg droht, sondern auch von welcher Art er sein wird, wer und was ihn verursacht und welche Form – zum Beispiel Handelskrieg, Regionalkrieg oder Weltkrieg – er annehmen wird.

Wir können davon ausgehen, dass es sich um keinen gerechten Krieg handeln wird, für den uns der deutsche Imperialismus „ertüchtigen“ will. Der Krieg wird auch nicht verursacht durch die Länder, auf die unsere Monopolbourgeoisie deuten lässt, also China oder Russland, sondern er wird verursacht durch das Monopolkapital selbst, durch den Zwang, zum Maximalprofit, durch den Zwang zu expandieren in schrumpfenden Märkten, in zunehmender Krisenhaftigkeit, aus der die imperialistischen Großmächte den Ausweg in der Neuaufteilung der Welt suchen.

Widerstand dagegen kommt dabei zunehmend aus dem Globalen Süden, von den Völkern in dessen Ländern, also den Arbeitern, Bauern und der nationalen Bourgeoisie, deren Interesse objektiv gegen den Imperialismus gerichtet ist.

Einen diffusen Widerstand gibt es auch in den imperialistischen und entwickelten kapitalistischen Ländern. Denn auch hier haben die Arbeiterklasse und große Teile des Kleinbürgertums und der Bourgeoisie objektiv kein Interesse am Krieg. Aber zum Beispiel bei den Auseinandersetzungen um die Sanktionen haben wir gesehen, dass sich die Zwischenschichten bei der gegenwärtigen Schwäche der Arbeiterbewegung der Monopolbourgeoisie unterordnen.

Murren gegen die massiven Schäden durch die Russland-Sanktionen ist kein Umschwenken auf eine Befreiungsmission vom US-Joch, sondern entspricht dem Murren des Lieferanten, dem die Monopole die Preise drücken, ein Murren, dass die „Großen“ schalten und walten wie sie wollen, auch wenn es den „Kleinen“ ruiniert.

Form des Krieges

Die Form der Kriegswirtschaft hängt ab von den jeweiligen Kräfteverhältnissen im Imperialismus. Die Aufstellung im Kampf um die Neuverteilung ändert sich mit der Entwicklung der Kapitale, der Macht und den Konstellationen, die sich daraus bilden. Ausgetragen wird der Kampf dann, wie Lenin es formulierte, „heute friedlich, morgen nicht friedlich, übermorgen wieder nicht friedlich“.

Im Kalten Krieg großes stehendes Heer, nach der Konterrevolution mobile Interventionskräfte zum schnellen Eingreifen und jetzt Pläne für eine Einführung der Wehrpflicht, militärische Infrastruktur, langfristige Stationierung im Ausland, sprich Besatzung wie in Litauen. Aber auch weitere Optionen sind im Blick, wie die Auseinandersetzung um die Atombewaffnung zeigt. Vieles deutet darauf hin, dass der Weg in einen Weltkrieg eine Option der Finanzoligarchien wird.

Dabei wird eine entscheidende Frage sein, ob der NATO-Block hält oder die zwischenimperialistischen Widersprüche zu einer Bildung neuer Allianzen führen. Dies wäre günstig nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, dass die um Sozialismus und Unabhängigkeit kämpfenden Länder nicht einem geschlossenen Gegner gegenüberstehen. Sollen wir eine solche Entwicklung aktiv unterstützen? Wenn wir Palmiro Togliattis Gedankengang in seiner Rede auf dem VII. Weltkongress folgen, heißt die Antwort: Ja, allerdings in schärfster Gegnerschaft zur deutschen Monopolbourgeoisie.

Deswegen: „BRD raus aus der NATO!“ – das geht mit uns nur bei einer Senkung der Rüstungsausgaben. Nieder mit dem deutschen Militarismus!

Gesamtlage

Die Entwicklung der Form der Kriegswirtschaft folgt den Kräfteverhältnissen. Das heißt, der deutsche staatsmonopolistische Kapitalismus passt die Form der Kriegswirtschaft im Gesamtinteresse seiner Finanzoligarchie der veränderten Gesamtlage an, wie sie sich seit der Konterrevolution um 1990 entwickelt hat und jetzt wieder zu einer neuen Kräfteaufstellung kommt:

  • Der Neuverteilung der Territorien der ehemaligen So­wjet­union unter die imperialistischen Großmächte mit der Perspektive, sie zu Halbkolonien zu machen, stellte sich die dortige neu sich formierende herrschende Klasse entgegen mit der Übergabe der Regierungsmacht an Wladimir Putin. Der Kampf um die Unabhängigkeit Russlands konzentrierte sich bald auf die Ukraine. Es ist dabei auf die Unterstützung durch China angewiesen.
  • China stieg im Kampf um Unabhängigkeit und Sozialismus zur Weltmacht auf und setzt der imperialistischen Einkreisungspolitik Bündnisse mit Partnern entgegen, die im Widerspruch zur Hegemonie der USA stehen. Die Volksrepublik strebt ein System der kollektiven Sicherheit an.
  • Nachdem mit der So­wjet­union die politische Begründung der US-Hegemonie über die anderen imperialistischen Großmächte untergegangen war, soll die Begründung nun durch die Notwendigkeit von Containment und Rollback des chinesischen Einflusses ersetzt werden.
  • Auf dem Gebiet der Entwicklung der Produktivkräfte wird die Digitalisierung für die Gesamtentwicklung ähnlich grundlegend wie der Eisenbahnbau bei der Entwicklung des Kapitalismus in sein imperialistisches Stadium. Neue Großunternehmen entstehen in den USA und China auf größerer technischer und finanzieller Stufenleiter – mit Börsenwerten von mehreren Tausend Milliarden US-Dollar. Netzwerke zur Konzentration dieser Kapitalmassen sind in den USA mit einer Handvoll dominierender Digitalkonzerne entstanden und in China mit dem Aufbau entsprechender Unternehmen unter Kontrolle des Staates. Produktivkraftentwicklung ist zu einem entscheidenden Feld des Klassenkampfs im Weltmaßstab geworden.
  • Die USA-Finanzhegemonie wurde durch die von ihr geprägte weltweite Finanzkrise geschwächt.
  • Mit dem Ukraine-Konflikt verhindern die USA die Infragestellung ihrer militärischen Hegemonie, also der NATO. Das damit verbundene Sanktionsregime soll auch die politische und ökonomische Hegemonie aufrechterhalten.
  • Der Kampf zwischen den USA und den anderen imperialistischen Großmächten ist vollem Gang – Stichworte Handelskrieg und Nord-Stream-Sprengung –, wird aber überwiegend noch verdeckt geführt.

„Die auf Zusammenarbeit ausgerichtete Weltordnung, wie wir sie uns vor 25 Jahren vorgestellt haben, ist nicht Wirklichkeit geworden. Stattdessen sind wir in eine neue Ära des rauen geostrategischen Wettbewerbs eingetreten. Die größten Volkswirtschaften der Welt konkurrieren um den Zugang zu Rohstoffen, um neue Technologien und globale Handelswege. Von KI zu sauberer Technologie, von Quanten bis zum Weltall, von der Arktis bis zum Südchinesischen Meer – der Wettlauf hat begonnen.“
Ursula von der Leyen auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos

Die Stellung des deutschen Imperialismus

In dieser Gesamtlage versucht der deutsche Imperialismus Grundlagen zu schaffen für die strategische Souveränität gegenüber den USA – technologisch, ökonomisch, militärisch und politisch. Er will die strategische Souveränität erreichen in Zusammenarbeit mit dem französischen Imperialismus im Rahmen der EU. Sowohl die deutsche als auch die französische Finanzoligarchie wissen, dass sie allein zu schwach sind, um mit den USA um die Neuaufteilung der Welt konkurrieren zu können. Das wurde nochmals ganz klar in Emmanuel Macrons großer Europa-Rede in der Sorbonne 2017, die mit Angela Merkel abgestimmt war.

Ein Erfolg dieser deutsch-französischen Pläne ist bis heute nicht sichtbar. Das ist zu erklären mit der Konkurrenzsituation zwischen den deutschen und den französischen Bank- und Industriekonzernen und ihren Staats- und Regierungsapparaten – im Zusammenspiel mit dem Einfluss der USA selbst, gegen deren Hegemonie die Pläne gerichtet sind.

Ein Beispiel ist die beendete EU-Karriere von Thierry Breton, einer Zentralfigur der deutsch-französischen Rüstungszusammenarbeit. Als Chef des französischen IT-Konzerns Atos hatte er mit dem damaligen Banker Macron die Fusion von Atos mit der Siemens-IT-Beraterfirma SIS organisiert zum zweitgrößten IT-Dienstleister in der EU. Dann wurde er zum Industrie- und Rüstungskommissar der EU befördert und Antreiber für die digitale Souveränität, was ihm natürlich die Feindschaft der US-amerikanischen Digitalkonzerne einbrachte. Für die neue EU-Kommission wurde Breton von Macron wieder vorgeschlagen, aber von Ursula von der Leyen abgelehnt und von Macron fallen gelassen.

Die IT-Firma Atos ist aktuell in Auflösung. In Auflösung scheinen auch die deutsch-französischen Projekte für EU-Clouds und der von Breton 2023 verkündete Plan, 20 Prozent der weltweiten Chip-Produktion bis 2030 in der EU zu haben. Ob seine Satelliteninitiative Erfolg hat, mit dem System IRIS2 eine Konkurrenz zu den in den USA besonders von Elon Musk betriebenen Satellitenunternehmen zu schaffen, ist offen – eher unwahrscheinlich, wird aber dafür entscheidend sein, ob die EU eine von den USA unabhängige militärische Internet-Infrastruktur bekommt.

In Deutschland ist vor allem der Porsche-Clan nicht willens und wohl auch nicht mehr in der Lage, die Kapitalmassen für die nötigen Investitionen in die technologische „Transformation“ der Volkswagen-Gruppe allein zu organisieren. An der VW-Gruppe zeigen sich beispielhaft die Krise und die Reaktion des deutschen Finanzkapitals im Zusammenwirken mit Staat, Politik und Medien.

Im deutschen Finanzkapital verschieben sich derzeit mit der Entwicklung der Produktivkräfte die Schwerpunkte von der autozentrierten Industrie zur IT-zentrierten Industrie – voran Siemens, SAP, Telekom und Bosch. Davon untrennbar entwickelt sich natürlich im staatsmonopolistischen Gesamtinteresse die Industrie, die unmittelbar schwerpunktmäßig Rüstungsgüter produziert – voran Airbus, Rheinmetall und KDNS. Ein Widerspruch in der derzeitigen Ausformung des Gesamtinteresses entsteht dadurch, dass die Monopole sowohl vom US- als auch vom chinesischen Markt abhängig sind.

Bedingte Unterordnung

Der Widerspruch soll – wie seit 1945 – vom deutschen Imperialismus weiter durch das bedingte Unterordnungsangebot an die USA mit Schwerpunkt Aufrüstung gegen Russland unterlaufen werden. Öffentlich sichtbar wird das in der medialen Diskussion der „Zeitenwende“ in den Rüstungsausgaben: Zeitenwende ja, aber mit möglichst viel EU-Anteil, wobei dann wieder gestritten wird um den jeweiligen Anteil für die deutsche oder die französische Rüstungsindustrie.

Der deutsche Imperialismus kann davon profitieren, dass er für den Gesamtimperialismus unter Führung der USA die Aufgabe übernehmen soll, die EU nach Osten maximal auszudehnen und gegen Russland auszurichten. Es gilt Russland so einzuengen und so zu zermürben, dass es keine Unterstützung mehr für China sein kann. Auch die Anstachelung zu einer „bunten“ Konterrevolution in Russland, wie sie schon in Belarus versucht wurde, gehört in dieses imperialistische Kalkül. In dieser Rolle als Vormacht im Osten hofft Deutschland das notwendige militärische Drohpotenzial aufbauen zu können – um dann auch bei der Neuaufteilung als starker EU-Partner Frankreichs wieder mitzureden.

Die deutsche Rolle als Führungsmacht in der EU soll dabei ökonomisch, politisch und militärisch ausgebaut werden. Noch bestehende Beschränkungen für den deutschen Imperialismus können infrage gestellt werden, was aber – Stichworte: Atomrüstung und Flugzeugträger – auf französischen Widerspruch stößt.

Mit einer derart deutsch-dominierten und für die USA nützlichen EU im Kreuz erhofft sich der deutsche Imperialismus, für eine gewisse Zeit gegenüber China eine scheinbar unabhängige Rolle spielen zu können. Die Bedenken der USA versucht man zu zerstreuen mit Hinweis auf die taktische Variante „Wandel durch Annäherung“ oder „Die Burg von innen sturmreif machen“ – wie es schon mit dem „Osthandel“ und der „Entspannungspolitik“ gelungen ist.

Zeitgewinn spielt eine Rolle, weil der Anlauf zur Weltmacht und Konkurrenz auf Augenhöhe mit dem US-Imperialismus durch „Souveränität“ einer deutsch-französisch dominierten EU bisher nicht erfolgreich ist für den deutschen Imperialismus. Eine alternative Linie, sein Gesamtinteresse durchzusetzen, ist aber nicht sichtbar.

Derzeit sichtbar ist die alte Linie des Anlaufs zur Weltmacht durch taktisches Wechselspiel zwischen Frankreich und den USA, die offenbar weiterverfolgt werden soll, aber mit wesentlich erhöhtem staatsmonopolistischem Mittelaufwand.

Dazu muss der deutsche Imperialismus in dieser veränderten Kräftelage der allgemeinen Krise seine politische Aufstellung ändern.

Kriegskeynesianismus

In der Etappe nach 1989 schien der harte Griff der allgemeinen Krise sich zu lockern durch die Expansionsmöglichkeiten nach innen und außen. Im Rennen um die Beute wurde die Parole „freier Markt“ ausgegeben. In der imperialistischen Konkurrenz stand die eher friedliche Phase – Aufteilung nach Kapital – im Vordergrund, was die Bundeswehr nicht hinderte, wieder international zu schießen und zu bomben. Die defensiv mit Kapitalverflechtungen gegen das Eindringen von US-Kapital konstruierte „Deutschland AG“ wurde aufgelöst, viel Kapital wurde zur Beutejagd freigegeben. In Deutschland war die Propaganda der Allmacht des freien Marktes unter der Marke „Neoliberalismus“ als Schuldenbremse in Verfassungsrang erhoben worden und hatte auch geholfen, die deutsche EU-Dominanz über Frankreich durch die EU-Schuldenregeln zu sichern. Auch hier zeichnet sich nun eine „Zeitenwende“ ab: Russland konnte nicht in Halbkolonien zerlegt werden, die Konterrevolution in China wurde zurückgeschlagen, das EU-Souveränitätsprojekt ist nicht vorangekommen.

Im September legte Mario Draghi nun der EU-Kommission seinen Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit gegen USA und China, sprich zur Weltmachtposition vor. Die Vernetzung Draghis aus seiner Zeit als Chef der EU-Zentralbank und Retter des Euro „whatever it takes“ gewährleistet, dass er das Gesamtinteresse des EU-Finanzkapitals berücksichtigt.

Der Bericht verlangt, dass in der EU pro Jahr rund 800 Milliarden Euro zusätzlich investiert werden, um in Technologie, Energieunabhängigkeit und Rüstung gegen die USA und China zu bestehen.

Für Deutschland hieße das entsprechend dem wirtschaftlichen Gewicht etwa 200 Milliarden Euro pro Jahr, also zweimal den „Zeitenwende“-Betrag!

Die Reaktion aus Deutschland war seltsam leise, der Sturm im Medienwald blieb aus. Das Wirtschaftsministerium kommentierte sachlich, der Draghi-Bericht werde „voraussichtlich maßgeblichen Einfluss auf die Politikgestaltung und Schwerpunktsetzung der neuen (EU-)Legislatur haben“.

Draghi fasst offenbar die Sicht des EU-Finanzkapitals dahingehend zusammen, dass die gigantischen Investitionssummen und Umbauten des Staatsapparats für die Perspektive Weltmacht erforderlich sind, nachdem die bisherigen Pläne gescheitert sind.

Der Draghi-Bericht liefert die Grundlage für eine neue Propagandarichtung, mit der die Abwälzung der neuen gigantischen Milliardenlasten auf die Arbeiterklasse und die nicht monopolistischen Volksschichten als alternativlos verteidigt werden soll.

Die Finanzoligarchen, die die Gewinne aus ihren Monopolen nicht ausreichend in die neuen Technologien investiert haben, um gegen die Konkurrenten in den USA und China mitzuhalten, verlangen jetzt vom Staat die Mobilisierung der Draghi-Milliarden. Die Rechtfertigungsideologie soll wieder gewechselt werden von „neoliberal“ – das heißt der Markt soll alles richten – auf „Keynes“ – das heißt der Staat soll die in der Krise fehlende Nachfrage durch Schuldenaufnahme und Investitionen ausgleichen.

Der unter Sparzwang gesetzte Staat hat die Investitionen in die für die Produktivkraftentwicklung erforderliche Bildung und Wissenschaft nicht geleistet.

Der Staat hat in seiner Aggressivität, die Maximalprofite der Monopole zu sichern, nicht einmal mehr die Infra­struktur für die Mehrwertproduktion aufrechterhalten.

Das „Handelsblatt“, Selbstverständigungsorgan des Finanzkapitals, stellte in seiner Ausgabe vom 18. November 2024 im „Kommentar aus Berlin“ seiner Leserschaft die Dringlichkeit der Situation folgendermaßen dar: „Sechsjährige starten mit massiven Defiziten, weil sie keinen Kita-Platz hatten oder dort nicht gefördert wurden. Unsere 15-Jährigen sind bei Pisa jäh abgestürzt, die Zahl der Jugendlichen ohne Ausbildung hat einen traurigen Höchststand erreicht, und die vielen Migranten können nicht so integriert werden, wie es mit mehr Bildung möglich wäre. All das bedroht den Standort Deutschland mit zeitlicher Verzögerung mehr als die fehlende Infra­struktur. Wer mangels Personal keine modernen Maschinen entwickeln kann, braucht auch keine Straße, um sie zum Kunden zu bringen.“

Aber: Wie soll die EU, wie soll der deutsche Staat jedes Jahr zusätzlich hunderte von Milliarden mobilisieren?

Draghi selbst schlägt bereits eine Kombination von staatlichen und privaten Mitteln vor. Von der Leyen wurde auf dem berüchtigten Davoser Weltwirtschaftsforum deutlicher: In den EU-Ländern gebe es 1.400 Milliarden Spargelder privater Haushalte. Sie werde einen Plan für europäische Spar- und Investitionsprodukte vorschlagen, damit diese im Sinn des Draghi-Berichts nutzbar würden.

Das Wort Kriegs- oder Rüstungsanleihen hat sie dabei unseres Wissens nicht verwendet.

„Mit dem Kompass legt die Kommission ihre Wirtschaftsstrategie für die nächsten fünf Jahre vor. Diese Strategie ist einfach und lässt sich in einem Schlüsselwort zusammenfassen: Wettbewerbsfähigkeit.“
Stéphane Séjourné, Vizepräsident der EU-Kommission, bei der Vorstellung Plans zur Umsetzung des Draghi-Berichts. Darin werden drei Handlungsschwerpunkte gesetzt: Innovation, Dekarbonisierung und Sicherheit

Zyklische und allgemeine Krise

Im Getümmel um das Ende der Ampel-Koalition zeichnete sich schon die Umorientierung des deutschen Imperialismus weg von der Schuldenbremse ab.

Die gängigen Vorschlagsmuster des Politpersonals sind der deutschen Realität nicht mehr angemessen. Zur Realität gehört auch, dass die zyklische Krise die Symptome der allgemeinen Krise verstärkt.

Nach der Finanzkrise 2008 kam der deutsche Imperialismus nicht mehr in Schwung. 2018 sahen wir den letzten Höhepunkt der deutschen Industrieproduktion, 2020 den Tiefpunkt. Nach Ende der Pandemie-Maßnahmen zog die Nachfrage an, ging wieder zurück, zog wieder an, ohne einen Aufschwung auszulösen – die Industrieproduktion kam nicht mehr über den letzten Höhepunkt hinaus.

Die Zahl der Unternehmensinsolvenzen steigt, die Industrieaufträge sinken. Die Konsumnachfrage ist mager, selbst die nominalen Lohnerhöhungen werden nach den vielen Entlassungsmeldungen eher gespart.

Der Anschub für den Aufschwung aus den letzten Zyklen kam aus dem Export, vor allem in die EU, nach China und in die USA. In allen drei Regionen ist aber mit schwächerem Wachstum zu rechnen, politische Hindernisse stehen im Raum.

Die allgemeine Krise hat den acht- bis zehnjährigen Krisenzyklus deformiert, die Staatseingriffe auch in den Währungs- und Kapitalmarkt haben neue Krisenpotenziale geschaffen.

Die Kernbranche der deutschen Industrie, der Automobilbau, ist von sinkender Nachfrage getroffen. Gleichzeitig muss sie auf neue Technologie umstellen: alternative Antriebe und autonomes Fahren. Die Anforderungen sind unterschätzt und die Profite nicht investiert worden. An VW, Mercedes und BMW hängen die Weltfirmen Bosch, ZF, Conti, Schaeffler, Mahle und zahllose andere. Auch im Hightech-Bereich – von Siemens bis Intel – sinkt dadurch die Nachfrage.

Ob, wann und wie tief sich eine Krisen-Kettenreaktion in der EU und in Deutschland ausbreitet, wird auch von den im Draghi-Bericht genannten massiven staatlich subventionierten Investitionen abhängen.

Um die gigantischen Beträge zu mobilisieren, wird auch vom politischen Personal erwartet, dass es sich entsprechend orientiert.

Die Krise wird sich durch den zunehmenden Protektionismus der USA verstärken. Deshalb ist zu erwarten, dass sich zur Einigung über die Finanzierung der Draghi-Milliarden eine Koalition bildet, die eine Notsituation konstatiert und das Grundgesetz mindestens in der Frage der Schuldenbremse ändert.

Der „neoliberale“ Modus des staatsmonopolistischen Kapitalismus, das freie Rennen um die Beute bei der Neuaufteilung nach der Konterrevolution mit den Stichworten Globalisierung und Privatisierung, wird abgelöst durch einen autoritären Modus mit den Stichworten Sicherheit, Protektionismus und Industriepolitik, den wir in Deutschland als reaktionär-militaristischen Staatsumbau richtig charakterisieren.

Das relativ lockere deutsche Abfedern der Widersprüche mit den USA und Frankreich kann nach der Sprengung von Nord Stream und dem Rausschmiss von Breton bei der EU nicht weitergeführt werden.

Krise der „Sozialpartnerschaft“?

Auch das Abfedern der Widersprüche nach innen unter dem Titel „Sozialpartnerschaft“ ist infrage gestellt, wie sich an den Auseinandersetzungen bei VW zeigt. Dort zeigt sich auch: Je mehr sich die Krise entfaltet, desto deutlicher wird die Widersprüchlichkeit der SPD – je offener sie im Klassenkampf das Kapital unterstützt, desto mehr verliert sie an Einfluss in der Arbeiterklasse, ohne den sie aber ihren Wert für das Kapital verliert.

SPD-Pistorius steht an der Seite des Kapitals für NATO und Rüstung, fordert gemeinsam mit seinem Parteifreund und Zweiten Vorsitzenden der IG Metall, Jürgen Kerner, mehr deutsche Rüstungsproduktion und sichert damit die NATO-Einbindung des DGB ab, gleichzeitig demonstriert SPD-Stegner mit Wagenknecht dagegen. Petra Erler stellte auf dem Podium der Rosa-Luxemburg-Konferenz fest, dass die Mehrheit der Mitglieder ihrer SPD wieder zur Entspannungspolitik zurückkehren will.

CDU-Chef Friedrich Merz profiliert sich als gesprächsoffen für alle, die einen starken Staat wollen, mit dem der deutsche Imperialismus auf die Krisenentwicklung reagieren kann.

Gesprächsoffen ist Merz auch für eine SPD der Pistorius, Kerner und Nancy Faeser, die signalisieren, die Gewerkschaften im Griff zu haben auf dem Weg zum starken Staat, der Opfer hinsichtlich des Lebensstandards sowie demokratischer und sozialer Rechte durchsetzt.

Diese Bereitschaft, Opfer durchzusetzen für die Weltmachtstellung der von Deutschland geführten EU, wird das Kriterium sein für die Gesprächsbereitschaft von Merz. Dabei müssen Leute wie Höcke, die bereits jetzt den offenen Terror gegen die Nichtopferbereiten fordern, wohl noch außen vor bleiben. In den Reihen der Finanzoligarchie ist der Streit in vollem Gang über die Rolle, die der Sozialdemokratie noch oder den faschistischen Kräften schon zugedacht werden soll beim Abwälzen der ins Auge gefassten Lasten. Ob und inwieweit das dann gelingt, wird vor allem davon abhängen, ob eine wirkungsvolle Gegenbewegung derer zustande kommt, die die Opfer bringen sollen.

Wirkungsvoll wird sie in Deutschland nicht werden, solange die Kräfte, für die Pistorius, Faeser und Kerner stehen, den DGB im Griff haben.

Worauf müssen wir uns einstellen?

Ganz abgesehen davon, dass Kapitalismus per se und Imperialismus umso mehr Kriegswirtschaft ist – ihr Frieden, so Bertolt Brecht 1939, ist aus dem gleichen Stoff wie ihr Krieg –, gibt es natürlich Phasen, in denen relativer imperialistischer Frieden herrscht und Zeiten, in denen sich die Vorbereitungen für den offenen Krieg im militärischen Sinn verstärken. In diese Phase ist das imperialistische Lager um 2010 mit dem „Pivot to Asia“ – dem Schwenk gegen China – und dem damit zusammenhängenden Ukraine-Putsch eingetreten. Das zeigt sich jetzt mit gewisser Verzögerung auch im deutschen Imperialismus.

Wenn wir also vor diesem Hintergrund davon ausgehen müssen, dass das Lager des Imperialismus auf eine große – auch militärische – Auseinandersetzung zusteuert mit dem Ziel, China als Konkurrenten und als systemische Bedrohung durch den Sozialismus auszuschalten, zu unterwerfen, aufzuteilen, dann müssen wir fragen: Was ist aus Sicht der Imperialisten dafür notwendig und wie soll das erreicht werden? Die Variante, dass angesichts der weltweit wachsenden Stärke der antiimperialistischen Kräfte die Imperialisten „vernünftig“ werden und die Zeichen der Zeit erkennen, ist nach unseren Erfahrungen unrealistisch. Obwohl auch die Kapitalisten wissen, dass – je mehr Kapital akkumuliert wird – die Gefahr der Krise wächst, können sie nicht aufhören zu akkumulieren – und obwohl sie sehen, dass die Börse überhitzt, spekulieren sie munter weiter. Akkumulation, Krise, Krieg – das ist Gesetzmäßigkeit im Kapitalismus. Können sie China nicht besiegen oder totrüsten, werden sie sich gegenseitig totschlagen müssen, müssen sie die Welt gegeneinander neu aufteilen, kommt es zur Kannibalisierung der Imperialisten untereinander.

Diese Perspektive erfordert in der Tat eine Umstellung auf Kriegswirtschaft im Sinne einer Vorbereitung auf eine lang anhaltende militärische Auseinandersetzung mit dem Ziel, die Gegner über lange Zeit auszuschalten. Davon ist der deutsche Imperialismus derzeit noch weit entfernt. Pistorius hat das Jahr 2029 genannt für Herstellung der „Kriegstüchtigkeit“.

Im Faschismus bekam die Rüstung erst mit der Einführung der Wehrpflicht 1935 und dem Vierjahresplan von 1936 Umfang und Tempo. Der Krieg in seinen Zielen und seiner Strategie war selbst in groben Umrissen erst 1937/38 skizziert (Hoßbach-Protokoll vom November 1937).

Derzeit sind die wirklichen militärischen Großprojekte FCAS für den Luftkrieg und MGCS auf dem Boden für 2040 projektiert.

Wir vergessen aber nicht, dass es sich bei „Kriegswirtschaft“ auf kapitalistischer Grundlage nicht um gesellschaftlich geplante Wirtschaft handelt. Dietrich Eichholtz zeigte in seinem Grundlagenwerk „Geschichte der deutschen Kriegswirtschaft 1939 – 1945“ eindringlich, wie selbst im offenen brutalsten Weltkrieg die monopolistische Konkurrenz und selbst auch die Kollaboration von Monopolen der Kriegsgegner fortlebte.

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"Übergang zur Kriegswirtschaft?", UZ vom 7. Februar 2025



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