Nach neunjährigen Verhandlungen wurde am 30. Juni in Hanoi ein Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und Vietnam (EV-FTA) besiegelt. Die feierliche Unterzeichnung erfolgte im Beisein von Vietnams Premierminister Nguyen Xuan Phuc und Cecilia Malmström, der für Handel zuständigen EU-Kommissarin, sowie weiterer Repräsentanten der Regierung Vietnams und der EU. Das Vertragswerk umfasst nicht nur Aspekte wie die Reduzierung von Zöllen und den Schutz von Auslandsinvestitionen, sondern auch Sozial- und Ökologiestandards, wie die Zusage zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens sowie die Einhaltung der Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) wie zum Beispiel das „Verbot von Kinderarbeit“ sowie der „Freiheit der Vereinigung und den Schutz des Rechts auf Organisation“.
Vietnam drängt seit langem auf solche Freihandelsabkommen mit verschiedenen Ländern und Ländergruppen. Vietnam gehört zu den Ländern, die als „Fabrik der Welt“ bezeichnet werden. Die Wirtschaft und Millionen Arbeitskräfte des Landes hängen von der Produktion von Waren für den Weltmarkt ab. 90 Prozent der Exporte Vietnams kommen aus der Leichtindustrie (Kleidung, Schuhe, Elektronikartikel) und der Landwirtschaft (Reis, Kaffee, Nüsse, Gewürze, Fisch, Garnelen). Nur zirka 10 Prozent der Exporte wurden bisher mit Erdöl erwirtschaftet. Viele Importländer erheben allerdings auf solche Waren Schutzzölle in sehr unterschiedlicher Höhe. Die wichtigsten Handelspartner Vietnams sind neben China die USA und die EU. Hier ist Deutschland der wichtigste Partner.
Die Hoffnung Vietnams beruht darauf, durch entsprechende Abkommen mit diesen Ländern diese Zölle zu beseitigen und damit mehr Waren preisgünstiger liefern zu können. Nguyen Chi Dung, Minister für Planung und Investitionen, schätzt, dass die Exporte in die EU anfangs um 20 Prozent und bis 2030 sogar um fast 44,4 Prozent höher sein könnten als heute. Das Abkommen mit der EU soll das Bruttoinlandsprodukt Vietnams um 1,3 Prozent und seine Exporte um 4 Prozent steigern. Dabei sollen Tausende Arbeitsplätze entstehen. Die größten Chancen sieht Vietnam weiterhin bei Textilien, Schuhen und Lederwaren, obwohl der Regierung bewusst ist, dass durch die Digitalisierung und Automatisierung vor allem in diesen Branchen die billige manuelle Arbeitskraft unterboten wird. Minister Nguyen Chi Dung drängt deshalb auf einen „Übergang von der Quantität zur Qualität der ausländischen Direktinvestitionen. Dies soll uns helfen, fortschrittlichere, hochtechnologische und nachhaltige Investitionen zu beschaffen, insbesondere Projekte mit hoher Wertschöpfung.“
Ein weiterer Grund, warum Vietnam solche Abkommen anstrebt, ist der zunehmende Protektionismus. Hier gibt es gemeinsame Interessen zwischen der Wirtschaft in den reichen EU-Ländern und Vietnam. Vietnam will Absatzmärkte in den reichen Ländern des „Nordens“ und diese profitieren nach wie vor von der billigen Arbeitskraft des „Südens“.
Die auf einen intensiven Handel ausgelegten Abkommen bergen allerdings auch Risiken. Institutionen wie die Weltbank erzeugen Druck auf die Regierung Vietnams. Sie verlangen „Strukturreformen voranzutreiben, um Investitionen und Wachstum des Privatsektors zu fördern und gleichzeitig die Effizienz der Investitionen des öffentlichen Sektors zu verbessern“. Das heißt nichts anderes als Privatisierung von Staatsbetrieben, zum Beispiel der Erdölförderung und der öffentlichen Daseinsfürsorge, wie zum Beispiel Wasser oder Energie.
Der nächste Schritt ist die Zustimmung der Parlamente von Vietnam und der EU. Dort gibt es aber Einwände. Eigentlich sollte das Abkommen bereits im Januar 2019 unterzeichnet werden. Vor allem Mitglieder der Grünen Fraktion verzögerten seinerzeit die Unterzeichnung und forderten „Menschenrechtsklauseln“. Ob die neu gewählten EU-Parlamentarier dem noch folgen, ist offen. Vietnam bereitet die Zustimmung zum EV-FTA bereits vor. Die Präsidentin der Nationalversammlung Vietnams, Nguyen Thi Kim Ngan, sagte in einem Gespräch mit EU-Kommissarin Malmstöm, das Abkommen dürfe nicht nur die wirtschaftlichen Beziehungen vertiefen, sondern müsse auch zum Wohle beider Seiten und der Welt beitragen.