Über „Grundwerte“ und Grundrechte

Uli Brockmeyer über die Grundwerte der EU

Eine Mehrheit der Abgeordneten des EU-Parlaments hat in der letzten Woche für die Einleitung eines „Rechtsstaatsverfahrens“ gegen das EU-Mitgliedsland Ungarn gestimmt. 448 Mandatsträger stimmten dafür, 197 dagegen, 48 enthielten sich der Stimme und immerhin 58 Volksvertreter fanden die Abstimmung nicht wichtig oder interessant genug, um überhaupt daran teilzunehmen.

Nun wird also Ungarn, einst einer der gelehrigsten Musterschüler der Europäischen Union, an den Pranger gestellt. Zu Recht – könnte man sagen, denn nicht erst seit der völligen Übernahme der politischen Macht durch den zuweilen wie ein mittelalterlicher Landesvater agierenden Ex-Liberalen Viktor Orbán läuft so einiges schief im Land der Magyaren. Etliche wichtige Errungenschaften des sozialistischen Ungarn wurden so gut wie ersatzlos abgeschafft, darunter das Recht auf Arbeit und eine Wohnung, das Recht auf Bildung und gesundheitliche Betreuung ohne Unterschied des Einkommens oder der sozialen Herkunft, das Recht auf eine angemessene Freizeitgestaltung, das Recht auf gewerkschaftliche Mitbestimmung. Eine große Bedeutung hatte im Mehrvölkerstaat Ungarn die völlige Gleichberechtigung aller nationalen und ethnischen Minderheiten. Auch die gehört seit 1990 der Vergangenheit an. Seitdem sind einige Minderheiten gleicher als andere, während vor allem die Roma, die sich in Ungarn selbst als Zigeuner bezeichnen, und auch viele jüdische Ungarn Diskriminierungen und Anfeindungen ausgesetzt sind.

Abgeschafft wurde im kapitalistischen Ungarn auch das Recht auf ein Leben in Frieden – spätestens seit sich die ungarische Armee am Krieg der USA und der NATO gegen den Irak beteiligte. Zudem wurden die meisten Industriebetriebe, die bis 1989 Eigentum des ungarischen Volkes waren, abgewickelt oder, wenn sie ausreichend Profit versprachen, an ausländische Besitzer verhökert, oft für den berüchtigten Apfel und ein Ei. Das trifft auch zu auf umfangreiche Immobilien, mit denen man im Tourismus und im Weinbau gutes Geld verdienen kann.

Gute Gründe also, um profunde Zweifel darüber zu äußern, ob Ungarn tatsächlich ein Rechtsstaat ist. Doch waren das die Beweggründe für die Abstimmung letzte Woche im Parlament der Europäischen Union? Weit gefehlt! Die EU, von der Kommissionschef Juncker im selben Saal behauptete, sie sei „ein Garant des Friedens“ und sie müsse „weltpolitikfähig“ gemacht werden, diese EU schert sich einen Dreck um Grundrechte für die Menschen. Diese EU wurde seinerzeit dafür gegründet, die Interessen der Banken und Konzerne zu vertreten und den Besitzenden die bestmöglichen Bedingungen für die Erzielung von Maximalprofiten zu garantieren. Dieser EU geht es nicht um Grundrechte, sondern einzig und allein um die sogenannten „Grundwerte“. Und die bestehen vorrangig in den „Grundfreiheiten“, nämlich der Freiheit des Waren-, Dienstleistungs-, Personen- und Kapitalverkehrs.

Es geht hier nicht um Sinn und Unsinn des EU-Verfahrens gegen Ungarn nach Artikel 7 oder darum, ob die von den EU-Parlamentariern angeführten Vorwürfe gegen Ungarn berechtigt sind. Eine politische Debatte wäre durchaus erwünscht, sogar dringend geboten, wenn es nicht um „Grundwerte“ der EU ginge, sondern um die Grundrechte der Menschen. Allerdings müsste dann das EU-Parlament Rechtsstaatsverfahren gegen ausnahmslos alle EU-Staaten einleiten. Und letztlich auch gegen die EU selbst. Was vielleicht gar nicht so falsch wäre …

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"Über „Grundwerte“ und Grundrechte", UZ vom 21. September 2018



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