Wenn eine Mehrheit der Wähler den Wahlurnen fernbleibt

Über „fulminante Wahlsiege“ in NRW

Von Rolf Priemer

Am 13. September 2015 standen in 177 Kommunen des Landes Nordhein-Westfalen Wahlen an. Die Bürgerinnen und Bürger waren dort aufgerufen, ihre Oberbürgermeister, Bürgermeister und Landräte neu zu wählen. Neu besetzt werden mussten die obersten Positionen in elf Großstädten, elf Kreisen und 155 Gemeinden. Die Wahlbeteiligung lag, nach schleppendem Beginn – die Beteiligung in Essen betrug am ersten Wahlsonntag bis gegen Mittag bei 12,5 Prozent, in Bochum bei 4,4 Prozent – in den 177 Kommunen bei 41 Prozent. Seit der letzten Wahl sank sie um neun Prozentpunkte. Die Wahlen stießen also auf kein besonders großes Interesse. Inzwischen gibt es Politologen, die führen das auf eine „Zufriedenheit“ der Bürger mit den lokalen Verhältnissen zurück. Offenbar bewegen sich diese Wahl-Erklärer nur, gut besoldet, in ihren Büros, Hörsälen oder Fernsehstudios. Andere hingegen registrieren sehr wohl, dass es in den Kommunen an allen Ecken Mängel gibt, den Bürgern immer mehr Lasten aufgebürdet werden und die lokal Verantwortlichen über allem schweben oder aufgrund der Finanznotstände kaum etwas tun können außer Sparen.

Aus der Wahlrunde am 13. September ergaben sich, dort, wo die Kandidatinnen und Kandidaten keine 50-Prozent-Mehrheiten erhielten, so genannte Stichwahlen zwischen den beiden bestplatzierten. In 49 Städten, Gemeinden und Kreisen mussten daher am 27. September die Bürgerinnen und Bürger erneut ran, um endgültige Entscheidungen zu treffen. Die Wahlbeteiligung sank um weitere Prozentpunkte. Besonders in den Großstädten blieben die Bürgerinnen und Bürger den Wahlurnen fern. In Essen gingen nur 27,7 Prozent zur Wahl, in Bochum 32,9 Prozent, in Solingen 33,3 Prozent, in Wuppertal 33,5 Prozent, in Krefeld 36,7 Prozent. Anders auf dem Land: In Laer gingen 64,5 Prozent an die Urnen, in Billerbeck 62,9 Prozent.

Nach diesem Wahlsonntag besteht nun folgende Gemengelage im Land. Die SPD liegt in den Großstädten vorn, obwohl sie zum Beispiel Essen und einige andere Großstädte an die CDU-Kandidaten verlor; die CDU stellt in den meisten Kreisen die Landräte, obwohl auch sie einige an die SPD verlor. Von den 23 kreisfreien Städten haben jetzt 15 einen SPD-Oberbürgermeister und sieben einen Rathauschef mit CDU-Parteibuch. In Hagen gibt es jetzt einen parteilosen Oberbürgermeister. Das kann auch in Köln bei der verschobenen Oberbürgermeisterwahl Mitte Oktober passieren, denn der SPD droht, die viertgrößte Stadt Deutschlands an eine parteilose Kandidatin, die von CDU, Grünen und FDP unterstützt wird, zu verlieren. Für die CDU gibt es hingegen einen deutlichen Vorsprung in den Kreisen. Sie stellt 21 von 28 Landräten, die SPD lediglich sechs. In einem Kreis gibt es einen parteilosen Landrat.

Das Erregendste an diesem Wahlabend waren allerdings die Wertungen, die die obersten Wahlergebnis-Erklärer von CDU und SPD zum besten gaben, teilweise sogar wortgleich. Sie haben ihre Siege glorifiziert und ihre Niederlagen größtmöglich ignoriert. So widmete sich NRW-CDU-Generalsekretär Bodo Löttgen ganz dem Wahlsieger in der Ruhr-Metropole, Thomas Kufen, der in Essen mit 62,6 Prozent gegen 37,4 Prozent seinen SPD-Konkurrenten besiegt hatte. Keine Rede davon, dass in Essen fast drei Viertel der Wahlberechtigten gar nicht abgestimmt hatten. Dieser Thomas Kufen, so CDU-Erklärer Löttgen, habe „mit einem engagierten Wahlkampf und den richtigen Themen Wählerinnen und Wähler für sich gewinnen können“. Er habe einen „fulminanten Wahlsieg“ eingefahren. Die CDU stelle nun in der neuntgrößten Stadt Deutschlands wieder den Oberbürgermeister, nachdem im ersten Wahlgang bereits die Rathäuser von Bonn und Oberhausen zurückerobert worden seien. Die Niederlagen in Bochum, und Castrop-Rauxel verkaufte er als „achtbare Ergebnisse“. Das wichtigste Signal für die CDU sei: „Das Ruhrgebiet ist kein Erbhof der SPD mehr.“ Bedauerlich sei hingegen der Verlust der Rathäuser in Krefeld und Wuppertal.

Ähnlich schön redete sein Partner von der Landes-SPD, Generalsekretär André Stinka das Abschneiden seiner Partei. Er hob die Siege beispielsweise in Wuppertal, Bochum, Krefeld und Solingen hervor und sagte wie schon sein CDU-Kollege: „Wir freuen uns in den Städten als auch im ländlichen Raum über fulminante Wahlsiege.“ Bei den Stichwahlen hätten die meisten SPD-Bewerber gewonnen. Kein Wort über den schmerzlichen Verlust des Essener Rathauses. Das übernahm dann die Essener SPD-Vorsitzende Britta Altenkamp, die von einem Mobilisierungsproblem der SPD sprach. Kein Wunder, hatte doch diese Genossin ihren Parteifreund mit der Bemerkung demontiert, dass er die „falsche Person“ für das OB-Amt in Essen sei. Immerhin sprach die SPD-Landesvorsitzende Hannelore Kraft dann doch noch von einer „bitteren Niederlage“ in Essen.

Die kommunale politische Landschaft in Nordrhein-Westfalen bleibt also weiter zweigeteilt: Die SPD stellt in der Mehrzahl der Großstädte den Oberbürgermeister, die CDU dominiert den ländlichen Raum. Die „Rheinische Post“ legt die Wunde „Demokratie“ offen: „Wenn es bei dieser Wahl eine Erkenntnis gibt, dann diese: Selbst die Sieger haben verloren. Denn bei einer Wahlbeteiligung von kaum mehr als 30 Prozent, kann der gewählte Bürgermeister nicht wirklich von sich behaupten, die Mehrheit der Stadtbevölkerung hinter sich zu wissen.“

Die auflagenstärkste Zeitung im Ruhrgebiet, die WAZ, fragte die beiden Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte und Claus Leggewie, was ein Rathauschef heute denn können muss. Korte meinte: „Parteien, Gewerkschaften, Verbände waren mal ein hervorragendes Rekrutierungs-Reservoir für Bürgermeister. Sie haben mögliche Kandidaten erkannt, Stimmungen eingeschätzt, Richtungen vorgegeben“, so Korte. Doch der Einfluss dieser Organisationen sei aufgrund von Mitgliederverlusten immer geringer geworden. Die Folge sei: „Es ist schwerer, gute Bürgermeister-Kandidaten zu finden, und die Bürgermeister sind isolierter als früher.“ Früher war ein Bürgermeister ein parteipolitischer Kümmerer. Heute muss er ein Manager-Typ sein, darf aber nicht kalt wirken, ein Manager mit Mitgefühl sozusagen. Leggewie fordert: „Der Bürgermeister muss eine sympathische Vertretung der Stadt nach innen und außen sein.“ Langweiler, Selbstdarsteller, Patriarchen, Choleriker sind out.

Unter den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen wird das alles kaum funktionieren und sind beste Absichten nicht durchsetzbar. Vorerst werden uns daher weitere „fulminante Wahlsiege“ vorgegaukelt.

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"Über „fulminante Wahlsiege“ in NRW", UZ vom 2. Oktober 2015



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