Zurückgekehrt von einer Reise in die nordafrikanische und arabische Welt, stehe ich unter den Teilnehmern der Friedenskundgebung am Brandenburger Tor. 20.000 Menschen haben die Forderungen einer wieder erstarkenden deutschen Friedensbewegung auf die Straße getragen. Das ist bitter nötig. Neben den Krieg in der Ukraine sind nach den blutigen Angriffen der Hamas am 7. Oktober die israelischen Massaker in Gaza getreten. Diese Tragödien haben ihre Genese. Sie zu ignorieren oder politisch ungelöst zu halten würde die Schwelbrände nicht löschen. „Blanken Wahnsinn“ nennt Sahra Wagenknecht die Forderung des SPD-Verteidigungsministers Pistorius, Deutschland „kriegstüchtig“ zu machen. Gaza vor Augen, erklärt sie, dass die besondere deutsche Verantwortung für jüdisches Leben und das Existenzrecht Israels nicht dazu verpflichtet, die rücksichtslose Kriegführung der Regierung Netanjahu als Selbstverteidigung schönzureden. Über diese Worte legen sich unwillkürlich die Filmberichte aus Gazas Bombenfeldern, die die Not der zur Flucht in angeblich sichere und dann doch beschossene Ecken des abgesperrten Käfigs Gedrängten beschreiben. Ich sehe die Ödnis verbrannter Lebensräume, wo sich Familien verzweifelt suchen, aber die Toten in den Massengräbern und die Lebenden in fremden Ruinen nicht auffindbar sind. Hier versagt das eingreifende Weltgewissen.
Lange vor dem 7. Oktober hatte ich die Schiffsreise in die geografische Nähe dieser Barbarei gebucht. Nun drückt der Luxus auf der Brust und in sonst so unbeschwerte touristische Impressionen drängen sich Sequenzen des Grauens. Bei Landgängen will ich die Haltung der Menschen ergründen. An Bord sind die spärlichen Tagesinformationen auf die genormten Kürzel des journalistischen Mainstreams eingedampft. An Land erfährt man mehr. Heimgekehrt zu den vielseitigen Informationsquellen, mischen sich die Reiseeindrücke mit glaubwürdigem Report aus dem verwüsteten Gaza zu einem Zeitbild, das in die Vergangenheit und vermutlich auch weit in die Zukunft greift.
Vor Port Said
An Bord gegangen sind wir auf Kreta. Ein nachdenklicher Ort zu Reisebeginn. In den Überresten des Palastes von Knossos, fünf Kilometer von der Inselhauptstadt Iraklion gelegen, erinnert das grandiose Erbe der Minoer, der frühesten Hochkultur Europas, daran, wie sehr materielle und geistige Fortschritte ihrer Gesellschaft mit einem betont friedfertigen Charakter harmonierten. „Europa – denk an deine Wiege!“ möchte man einer bellizistisch posaunenden Politikerphalanx vom Schlage Pistorius‘ zurufen. Aber die Ohren von Eiferern hören selektiv.
Zur Stadtfahrt im ägyptischen Alexandria und später auf der Exkursion von Safaga zu den Königsgräbern in Luxor fahren die Busse aus Sicherheitsgründen mit bewaffneten Begleitern. Vereinzelt sieht man in den Stadtbildern palästinensische Fahnen. Die Guides, auf das Gaza-Drama angesprochen, verbergen ihren Zorn und ihr Mitgefühl nicht.
Nach Safaga hin musste der Suezkanal passiert werden. Port Said erreichten wir am frühen Abend. Hier lagen wir auf Reede, um uns einem Konvoi für die nächtliche Passage anzuschließen. Die Durchfahrt verzögerte sich aber bis zum Morgen. Man munkelte, einem amerikanischen Kriegsschiff sei Priorität eingeräumt worden. Also sahen wir den für den Seeverkehr so bedeutsamen Kanal bei Tageslicht. Auf der Steuerbordseite Afrika. Backbords die in Asien gelegene Sinai-Halbinsel. Im Krieg um den Kanal 1956 und 1957 wurde Geschichte geschrieben. Port Said war im November 1956, als britische Fallschirmjäger hier landeten, fast vollständig zerstört. Die Suez-Krise war entflammt, als Ägyptens Präsident Gamal Abdel Nasser den Suezkanal verstaatlichte. Die alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich hatten sich mit Israel verbündet, um Nassers Entscheidung rückgängig zu machen. Tel Aviv meinte, sich aus seiner „arabischen Umzingelung“ befreien zu müssen, rückte vom Gaza-Streifen und über die Sinai-Halbinsel nach Ägypten vor. Die Briten und Franzosen griffen mit Luftlandetruppen an. Die militärische Intervention indes verfehlte ihr Ziel. Die Sowjetunion, die die souveräne Entscheidung Ägyptens billigte, und die USA, die im Kalten Krieg der ambitionierten Dritten Welt gefallen wollten, stoppten in der UNO den Waffengang. Der Kanal blieb in Ägyptens Hand, der beabsichtigte Sturz Nassers fiel aus, und die alten Kolonialmächte mussten lernen, dass sie hinter den sie zügelnden Großmächten zweitrangig geworden waren.
Linkerseits also die Sandwüsten Sinais. Jüngst hatte, Zeitungsberichten zufolge, eine Studie des für die israelischen Geheimdienste zuständigen Ministeriums die „Umsiedlung“ von über zwei Millionen Bewohnern des Gaza-Streifens in den Norden der Sinai-Halbinsel durchgespielt. Die Studie wurde vom Kriegskabinett kassiert, das eher mit der Vertreibung der überlebenden Gaza-Bevölkerung in verschiedene arabische Staaten liebäugelt. Inzwischen war auch in der „New York Times“ zu lesen, dass Israel lange vor dem 7. Oktober von den Hamas-Plänen wusste. Schwer zu glauben, dass der omnipräsente Mossad die Gefahr unterschätzte. Eher drängt sich der Verdacht auf, dass Netanjahu den Anlass brauchte, um die Palästina-Frage ein für allemal durch einen Genozid zu lösen und seine Fantasien von einem „Neuen Nahen Osten“ militärisch durchzusetzen. Auf seiner in der UNO präsentierten Karte kommt Palästina nicht vor und der Westen hat auch diesen Fingerzeig auf Tel Avivs Expansionslust weggeschnipst wie eine lästige Petitesse. Immerhin steht einiges auf dem Spiel. Der strategisch bedeutsame und finanziell lukrative Suezkanal in der Hand Ägyptens – ein Albtraum, der längst die Vision von einem Ben-Gurion-Kanal gebar. Ein Projekt, das die israelische Regierung schon 2021 in Angriff nehmen wollte. Aber die politische Situation in Gaza erweist sich als Störfaktor, wenn der Kanal vom Golf von Akaba kostengünstig über die palästinensische Enklave ans Mittelmeer geführt werden soll. Außerdem liegen vor der Küste Gazas reiche Bodenschätze. Gas und Öl im Wert von insgesamt 600 Milliarden Dollar, auf das Palästina einen Anspruch hat, wecken wohl Begehrlichkeiten.
Weihrauch und Ölreichtum – Arabia felix?
Das jordanische Akaba, nicht weit vom israelischen Eilat entfernt, haben wir aus Sicherheitsgründen nicht anlaufen können. Mitreisende, die sich das nahe Petra ansehen wollten, sind enttäuscht. Ich war da schon und freue mich über die außerplanmäßige Landung im omanischen Salalah, der im Südwesten des Sultanats gelegenen Hauptstadt des Gouvernements Dhofar. Hier sind die uralten Anbaugebiete des Weihrauchs, und hier begann die antike Weihrauchstraße, die sich in Petra, der Hauptstadt des Reiches der Nabatäer, nach Gaza und Damaskus verzweigte. Auch im entfernten Rom war das exotische Harz hochbegehrt, man nannte die Region seiner Herkunft deshalb „Arabia felix“ – glückliches Arabien. Heute kauft man Weihrauchstücke samt den nach alten Mustern geformten und bemalten Verbrennungsgefäßen im Al-Husn-Souk für kleines Geld. Der Duft schwebt überall. Im Oman fehlt Weihrauch in keinem Haus.
Weiter geht die Reise in die Hauptstadt Muscat. Für mich ein Wiedersehen nach fast zwei Jahrzehnten. Damals hatte ich auf dem Weg nach Indien hier Halt gemacht und mich über die engagierte Bewahrung der tradierten Landeskultur gefreut. Der Hang zur gebändigten Moderne, zum sanften Tourismus und zu einer Städteplanung, die selbst in Muscat nur neun Stockwerke erlaubt, hat sich in Zeiten des Ölbooms nicht verloren. Städte wie Dubai hält man für exaltiert und reizüberflutet. Ordnung und Sauberkeit sind im Oman mustergültig. Die Infrastruktur ist in einem beneidenswerten Zustand. Aber auch das: Alle 300 Meter stehen selbst außerorts auf den hell beleuchteten Straßen Blitzer. Die Strafen muss man sich leisten können. Auch die Fahrer ungewaschener Autos werden zur Kasse gebeten. Ausnahmen macht man nur, wenn es geregnet hat. Aber wann ist das schon! In Muscat gibt es Sommertemperaturen über 50 Grad. Wer kann, flieht dann ins angenehmere Salalah mit einem ziemlich konstanten Jahresmittel um die 30 Grad. Überall hat man zum Nationalfeiertag die Flagge gehisst. Der Guide sagt, wegen der Gaza-Tragödie wird es aber keine Feiern geben. Den Arabern blute das Herz.
Der Stadtführer in Khasab, der nächsten Hafenstation, wird noch deutlicher. In der arabischen Welt werde viel von Solidarität geredet und in der Bevölkerung gebe es sie auch. Aber die reichen Regierungen wagten sich nicht entschieden genug vor. Sie fürchteten den amerikanischen Bannstrahl, meint der gebürtige Tunesier. Khasab, eine omanische Exklave, liegt an der strategisch bedeutsamen Straße von Hormus. Die vor allem von Öltankern viel befahrene Meerenge ist von so großer strategischer Bedeutung, dass Khasab nicht zu allen Zeiten touristisch zugänglich war. Malerische Fjordlandschaften prägen die raue Landschaft, von deren Küste aus man bei guter Sicht die Ufer Irans erkennen soll. Weit ist es nicht, denn täglich kommen iranische Schmuggler mit ihren kleinen Schnellbooten, verkaufen Ziegen und kehren mit elektronischen Geräten zurück. Punkt 18 Uhr müssen die Boote wieder verschwunden sein. Ein gutes Geschäft auf beiden Seiten.
Tags darauf erscheint hinter der Reling Abu Dhabi und wieder einen Tag später Dubai in jeweils imposanter Skyscraper-Silhouette. Die hypermodernen Vorzeigemetropolen der reichsten und einflussreichsten aller im Staat VAE zusammengeschlossenen Emirate recken sich in den Himmel, wo noch in den 1960er Jahren ein Großteil der Bevölkerung in Hütten aus Palmzweigen lebte und Trinkwasser mit Schiffen angeliefert wurde. Vor allem der rasche Aufschwung der Erdölproduktion machte die VAE zu einem der reichsten Flächenstaaten der Welt. Der Luxus zeigt sich in religiösen und weltlichen Prestigebauten wie dem Burj Khalifa in Dubai, dem höchsten Gebäude der Welt, der künstlich angelegten Palm-Insel (der weitere folgen sollen), einer obszön teuren Nobel-Hotellerie oder dem größten Einkaufstempel der Welt, der Dubai-Mall, die mit ihren über 1.200 Geschäften Kunden aus aller Welt anzieht und doch zu erdrücken droht. Den Landeskindern wird ein Anteil am nationalen Reichtum zugestanden. Wir hören, dass jedem einheimischen Hochzeitspaar ein Haus geschenkt wird, dessen Wohnfläche 400 Quadratmeter nicht unterschreiten darf. Schnell entwickelte sich auch ein modernes, für Staatsbürger kostenloses Gesundheitswesen. Die heutige Lebensart in den Emiraten wäre indes ohne die Heerscharen ausländischer Arbeiter undenkbar. Ihr Bevölkerungsanteil soll inzwischen bei 90 Prozent liegen. Der pakistanische Taxifahrer, der uns sein Herz über die in Gaza getöteten Kinder ausschüttet, dabei an die eigene Familie denkt und nicht begreift, dass die Welt so seltsam unberührt wegschaut, erzählt uns von schlechter Bezahlung und unwürdigen Lebensbedingungen. Ausländische Arbeiter hausten zum Teil in Unterkünften mit mehr als einem Dutzend Schlafstellen. In Dubai sieht man überall Werbetafeln für die UN-Klimakonferenz. Zurückgekehrt, deuten alle Berichte auf eine bedenkliche Lobbyveranstaltung der fossilen Industrie hin. Die exaltierte Moderne frisst, was sie doch gerade vorzeigen will: künftige Lebensqualität.
Auf Katars Monitoren: Gazas Elend
Wir verabschieden uns vom Schiff und fliegen über das katarische Doha zurück nach Berlin. Auf dem Flughafen des Emirats herrscht noch um Mitternacht ein aufgeregter, quirliger Verkehr. Der hier ansässige TV-Sender Al Dschasira zeigt Aufnahmen aus Gaza. Wieder die Elendsbilder, die mich während der Reise nie verlassen haben. Katar hat sich um einen Waffenstillstand bemüht, den Annalena Baerbock nicht in meinem Namen ablehnte. Zu Hause lese ich in der „Berliner Zeitung“ den Aufschrei einer in Israel gebürtigen Jüdin: „Was erwarten wir von den überlebenden Kindern in Gaza … Sollen sie, nachdem sie wochenlang Ruinen, Hunger und Durst, Verschüttete und Verbrannte, Tod und Trauma erlebt haben, nach einem Wiederaufbau ihres Freiluftgefängnisses unsere freundlichen Nachbarn mit eingeschränkten Rechten werden, die unsere israelischen Gärten bestellen und unsere Häuser bauen? … Der Staat Israel verrät sein eigenes Volk … Unsere Trennlinie verläuft nicht zwischen Juden und Arabern, sondern zwischen Humanisten und Fanatikern … Wir verzweifeln an Israels Politik.“ Ich auch. Und an der deutschen.