Die brutalstmögliche Wirtschaftspolitik hat Tradition und dominiert nun EU-Europa

Über deutsche Austerität

Von Lucas Zeise

Die Leistungsbilanz Deutschlands hat 2015 mit dem höchsten je erreichten Überschuss abgeschlossen. Mit 250 Mrd. Euro machte der Überschuss mehr als 8 Prozent am deutschen Bruttoinlandsprodukt aus. Man könnte meinen, dass solche Erfolge von der Regierung in Berlin und der sie freundlich begleitenden Presse bejubelt werden. Nichts davon. Das Statistikamt unterschlägt fast den Rekordwert, obwohl er doch überdeutlich den Erfolg der merkantilistischen Wirtschaftspolitik und die viel beschworene Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft unterstreicht. Finanzminister Wolfgang Schäuble spielt das Datum herunter, so gut es geht. Denn in anderen Ländern kommt der Überschuss nicht gut an, bedeutet er doch bei ihnen entsprechende Defizite. Außerdem hieße das Feiern des Erfolges, dass Bürger – Kapitalisten und Lohnarbeiter – bei den gemeinsamen Anstrengungen nachlassen könnten.

Spätestens seit dem EU-Vertrag von Maastricht 1992, als die Währungsunion beschlossen wurde, ist die deutsche Austeritätspolitik nicht mehr nur die Marotte eines Landes, sondern die dominierende Politik in EU-Europa. Der Vertrag von Maastricht wurde nach deutschen Austeritätsvorstellungen geschrieben, die Politik der Europäischen Zentralbank (EZB) auf deutsch-rigorose Anti-Inflationspolitik festgelegt und die Euro-Staatsschuldenkrise als Zwangsmaßnahme des Finanzmarktes gegenüber der Politik der Euro-Staaten erdacht. In der Euro-Krise hat sich Deutschland von dem lediglich bevölkerungsreichsten und wirtschaftlich stärksten Staat in der EU zur alles entscheidenden Gläubigernation entwickelt. Während Angela Merkels Vorgänger als Bundeskanzler noch verhandeln und gelegentlich auch richtige Geldsummen einsetzen mussten, um EU-Beschlüsse nach deutschem Gusto herbeizuführen, sind Merkel und ihr Finanzminister Wolfgang Schäuble heute in der Lage, in entscheidenden Fragen den Partnern ihren Willen aufzudrücken. Die brutalen Diktate gegenüber Griechenland, Portugal, Zypern, Irland und Spanien sind im Prinzip in Berlin ersonnen worden. Dass sie so brutal durchgesetzt worden sind, ist das Werk der deutschen Regierung.

Deutsche Austerität ist nichts Besonderes. Austerität ist überall die gleiche restriktive Wirtschaftspolitik. Was deutsche Regierungen und die hinter ihnen stehende deutsche Kapitalistenklasse auszeichnet, ist die Rigorosität, mit der diese Politik über Jahrzehnte hinweg betrieben wurde. Man vergleiche etwa die Politik der noch amtierenden Regierung David Cameron in Britannien. Sie präsentiert sich als harte Sparregierung, macht aber – soweit das von außen erkennbar ist – an einigen Stellen wichtige Ausnahmen. So ist sie sehr darauf bedacht, den Immobilien-Boom im Land nicht zu unterbrechen. Er sorgt dafür, dass der Konsum einigermaßen wächst und damit das Wirtschaftswachstum höher hält als anderswo. Diese Politik ist wenig geeignet, einen Überschuss in der Leistungs- oder gar der Handelsbilanz zu generieren. Das ist auch nicht die Absicht, und genau das unterscheidet die neoliberale und reaktionäre Sparpolitik der britischen Tories (und anderer Regierungsparteien) von der der deutschen nicht minder reaktionären und neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Bundesbank noch vor Thatcher

Die Austeritätspolitik ist in Deutschland mindestens so alt wie die Politik des Neoliberalismus. Sie wird spätestens mit dem Amtsantritt von Ronald Reagan als Präsident der Vereinigten Staaten Anfang 1981 zur herrschenden Wirtschaftspolitik im führenden Land und damit auch schlechthin im Kapitalismus. Vorausgegangen war 1979 die Wahl Margaret Thatchers zur Premierministerin in Großbritannien. Ebenfalls 1979 wurde, noch unter Reagans Vorgänger James Carter, Paul Volcker an die Spitze der US-Notenbank berufen, der umgehend mit restriktiver Geldpolitik den Weg in eine tiefe Rezession einleitete. Noch früher ist erstaunlicherweise der Schwenk der Deutschen Bundesbank zum Monetarismus, die am 5. Dezember 1974 ein sogenanntes Geldmengenziel verkündete.

Nachdem im März 1973 die festen Wechselkurse zwischen den Währungen der kapitalistischen Staaten aufgegeben worden waren, sah sich die Deutsche Bundesbank – „endlich“, wie sie vermerkte – in der Lage, eine eigene Geldpolitik zu verfolgen. Diese Geldpolitik bestand – ein halbes Jahrzehnt vor Volcker – darin, die Zinsen hochzuziehen, um den, wie sie urteilte, Übermut der Gewerkschaften zu brechen. Um ihr Handeln zu rechtfertigen, führte die Bundesbank Ende 1974 die sogenannte „Geldmengensteuerung“ ein, wobei sie sich auf den Monetarismus des Neoliberalen Milton Friedman berief. Die Bundesbank war damals die einzige Notenbank, die gesetzlich unabhängig von Weisungen von Regierung und Parlament war. Sie war damit in der Lage, als erste den Gewerkschaften in Deutschland einen neoliberalen Rezessionsschock zu verabreichen. Noch heute rühmen die neoliberal getrimmten Notenbanker der Welt die frühen Erfolge der Bundesbank bei der Bekämpfung der Inflation. Die Macht der Notenbank, notfalls auch gegen den erklärten Willen der Regierung eine arbeitnehmerfeindliche Geld- und Wirtschaftspolitik durchzusetzen, ist damit von Anfang ein viel gerühmtes Eckdatum deutscher Austeritätspolitik.

Griechen werden dank deutscher Politik von der Bargeldversorgung abgeschnitten.

Griechen werden dank deutscher Politik von der Bargeldversorgung abgeschnitten.

( Ggia /wikimedia.com/ CC BY-SA 4.0)

Leider muss auch zugegeben werden, dass die spezifisch deutsche neoliberale Austeritätspolitik im Zusammenhang des Wettbewerbs imperialistischer Nationen Erfolge vorzuweisen hat. Die Vormachtstellung der D-Mark, ihre Tendenz zur Aufwertung und die deshalb vorzüglichen Finanzierungsbedingungen für die deutschen Kapitalisten waren die Grundlage, auf der die heutige Machtposition Deutschlands fußt. Besonders ärgerlich ist, dass große Teile der arbeitenden Bevölkerung den Kurs der Austerität deshalb als notwendig und zu ihrem eigenen Vorteil billigen. Die großen Industriegewerkschaften IG Metall und IG Bergbau, Chemie, Energie sind darauf bedacht, die Lohnsteigerungen unter dem Fortschritt der Arbeitsproduktivität zu halten, um so den Spielraum der deutschen Konzerne gegenüber der ausländischen Konkurrenz zu erhöhen. Sie haben es außerdem hingenommen, dass die sozialdemokratisch geführte Bundesregierung unter Kanzler Gerhard Schröder in den Jahren 2002 bis 2005 das vormals ziemlich gut funktionierende Rentensystem und das System der Arbeitslosenabsicherung abgebaut hat sowie einen Niedriglohnsektor und ein Leiharbeitssystem geschaffen hat, das in der Summe die Löhne massiv unter Druck gebracht hat. Das Resultat war eine noch stärkere Überlegenheit deutscher Exportunternehmen im Vergleich zu ihrer ausländischen Konkurrenz. Kapital und Regierung und ihre Propagandisten in Wissenschaft und Presse werden nicht müde zu behaupten, dass die Arbeitslosigkeit in Deutschland seit den „Schröder-Reformen“ deutlich gesunken ist und dass die ökonomische Lage Deutschlands, verglichen mit anderen europäischen Ländern, komfortabel ist.

Rechtspopulistische schwäbische Hausfrau

Das ideologische Standbein der Austeritätspolitik ist aber weniger der Merkantilismus als die Solidität der Staatsfinanzen. Hier wird Austerität wirklich populär. Vermutlich ist das in Deutschland nicht anders als anderswo. Wenn Angela Merkel sich die „schwäbische Hausfrau“ als Modellfigur aussucht, die nie mehr ausgibt, als was sie schon hat, nämlich „gespart“ hat, ist das pure Demagogie. Man könnte auch sagen, der reine Rechtspopulismus. Es wird so getan, als sei Verschuldung an sich ein Übel. Spezifischer deutsch ist vermutlich die erfolgreiche Zurückdrängung des Keynesianismus. Die steigende Staatsverschuldung seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde ihm erfolgreich angelastet, obwohl die Versuche, antizyklische Haushaltspolitik zu betreiben, unter Kanzler Helmut Schmidt (1973–1982) immer zaghaft geblieben waren. Schon als Denkfigur ist expansive Fiskalpolitik in Deutschland aus der politischen Diskussion verbannt. Die Sozialdemokraten sind voll auf konservativer Linie. Bei der Verankerung der so genannten „Schuldenbremse“ im Grundgesetz, die allen Gebietskörperschaften und ihren Parlamenten enge Verschuldungsgrenzen vorschreibt, taten sie sich sogar besonders hervor. Die Verfassungsänderung fand absurderweise zur gleichen Zeit statt, als Bundestag und Bundesrat auch die größte jemals verabschiedete Zuwendung von 480 Mrd. Euro (entsprechend dem Anderthalbfachen eines Bundeshaushalts) an die deutschen Banken beschloss.

Die Finanzkrise von 2007 und die anschließende Weltrezession ließ die Verschuldung der Staatsfinanzen überall kräftig nach oben schnellen. Die deutsche Staatsverschuldung stieg in zwei Jahren von knapp über 60 Prozent am Bruttoinlandsprodukt (BIP) auf über 80 Prozent. Die auf Betreiben Deutschlands in die Euro-Verträge aufgenommene Regel, die Verschuldung dürfe 60 Prozent am BIP nicht übertreffen, wurde von den Tatsachen einfach nicht beachtet. Auch vorher waren solche kleinen Widersprüchlichkeiten zwischen Vertrag und Wirklichkeit den Politikern herzlich egal. Sie nutzten die so genannten Maastricht-Kriterien, wie es ihnen gerade in den Kram passte.

Als Georgios Papandreou im Frühherbst 2009 die Wahlen in Griechenland für seine Pasok-Partei gewonnen hatte und anlässlich eines im Wahlkampf angekündigten „Kassensturzes“ bekanntmachte, dass die Verschuldung Griechenlands schon jahrelang höher als offiziell verkündet war, passte es plötzlich vielen in den Kram, „Skandal“ zu rufen. In Wirklichkeit wussten Politiker in Griechenland und in der EU, wussten die Verantwortlichen in der EU-Kommission, wusste der griechische Notenbankchef Lucas Papademos, wussten die Akteure an den Finanzmärkten und wussten die Rating-Agenturen, dass die von Athen gelieferten Verschuldungszahlen mit freundlicher Unterstützung von Goldman Sachs nach unten manipuliert worden waren. Wie Belgien und Italien war auch Griechenland mit, gemessen an den Maastricht-Regeln, viel zu hoher Verschuldung in die Währungsunion gelassen worden.

Die Renditen griechischer Staatsanleihen zogen nach Papandreous Bekenntnis kräftig nach oben. Die Rating-Agenturen stuften die Bonität Griechenlands nach unten. Weder die EZB noch die wirtschaftlich stärkeren Euro-Staaten boten finanzielle Hilfen oder Garantieerklärungen. Im Gefolge Griechenlands stiegen auch die Renditen der Staatsanleihen zahlreicher andere Euro-Staaten an – auf ein auf Dauer untragbares Niveau. In Deutschland behauptete Frau Merkel, die in den Vertrag von Maastricht eingefügte „No-Bail-out-Klausel“ verbiete die finanzielle Unterstützung eines Euro-Staates durch einen anderen. Das war eine glatte Lüge. Der Vertrag sagt lediglich, dass kein Staat für die Schulden eines anderen haftet. Das ist ein erheblicher Unterschied, wie das im Mai 2010 geschnürte Hilfspaket für Griechenland zeigt. Die Kosten einer solchen Hilfe waren in den verstrichenen Monaten allerdings erheblich gestiegen. Die Bedingungen für Griechenland waren zugleich erheblich härter geworden.

Deutschland wird Krisengewinnler

Alle Vorschläge, die Finanzierungsbedingungen für die schwächeren Länder der Eurozone generell zu erleichtern, wurden von der deutschen Regierung, der Deutschen Bundesbank und der EZB einmütig und strikt abgelehnt. Der für die finanziell schwächer gestellten Staaten wichtigste Grund, der Währungsunion beizutreten, nämlich den für eine Weltwährung typischen günstigen Kredit zu erhalten, war mit der Euro-Staatsschuldenkrise zunichte geworden. Durch die harte austeritäre Haltung seiner Regierung wurde Deutschland zum Krisengewinnler. Fluchtgeld strömte aus den Krisenländern. Die Anleiherenditen nicht nur des deutschen Staates, sondern auch die deutscher Banken und anderer Emittenten sanken. Vor allem aber die Zinsdifferenz zu den Kreditkosten aller anderen europäischen Wettbewerber stieg kräftig an. Neben den Lohnkosten sind für Industrieunternehmen die Kreditkosten der zweitwichtigste Faktor. Hier einen Kostenvorsprung zu haben, hat sich für die deutschen Konzerne zu einem entscheidenden Vorteil entwickelt.

Sie haben mit ihrer zu Hause und in Euro-Europa durchgesetzten Austeritätspolitik drei Vorteile gegenüber der Konkurrenz errungen: Der erste Vorteil ist der offene, große Binnenmarkt, der ohne Währungsschwankungen funktioniert und damit so frei wie der nationale Heimatmarkt Deutschland ist. Das deutsche Kapital verfügt über relativ niedrige und langsam wachsende Lohnkosten. Es verfügt drittens über einen Kreditkostenvorteil, der wegen der von Deutschland aus angeheizten Eurokrise noch höher als vor der Währungsunion war. Es ist so gesehen kein Wunder, dass die deutschen Großkonzerne und ihre Regierung an der in ihrem Sinne erfolgreichen Austeritätspolitik festhalten.

Ein Ende dieser Politik ist deshalb gegenwärtig nicht abzusehen. Zumal sie, wie angemerkt, auch in Teilen der deutschen Arbeiterklasse akzeptiert und sogar befürwortet wird. Die Risiken einer solchen Politik sind aber offensichtlich. Die Abhängigkeit vom Weltmarkt ist größer als anderswo. So war der Konjunktureinbruch 2008/09 in Deutschland tiefer als in allen anderen vergleichbaren Ländern. Zur unmittelbaren Bedrohung kann aber eine Auflösung und Zersplitterung des EU-Binnenmarktes und der Euro-Währungszone werden.

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"Über deutsche Austerität", UZ vom 1. Juli 2016



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