Dietmar Dath
Leider bin ich tot
suhrkamp taschenbuch 4654
Klappenbroschur, 461 Seiten
16,99 Euro
ISBN: 978-3-518-46654-4
Es sei ein „provokanter und verblüffender Roman über Religion – eine Meditation über den Glauben und das Böse, über die Zeit, denkende Winde, Komplexitätstheorie und die Schuld der Väter“, vermutet der Klappentext. Ein Versuch eines, nach eigenem Bekunden, Atheisten, Gott oder das Göttliche zu verstehen. Dass so etwas keine triviale Veranstaltung werden kann, versteht sich von selbst. Erst recht dann nicht, wenn der Autor Dietmar Dath heißt.
Dass der Text voller mehr oder weniger versteckter Zeichen und Verweise daher kommt, die es zu entschlüsseln und recherchieren gilt (wenn man das denn mag), ist da noch die am leichtesten zu nehmende Hürde. Man kann sich zuweilen des Eindrucks schwer erwehren, dass den Autor vor allem eine Sorge plagt: als unterkomplex wahrgenommen zu werden. Unberechtigterweise. Diese zuweilen kryptologische Verspieltheit bringt die erzählerische Stringenz auf den 461 vielfältig vollgepackten und mit reichlich Parallelstrukturen versehenen Seiten nicht in jedem Fall voran. Viel schwerer aber wiegt die Frage nach dem Sinn des Ganzen.
Ein reichlich beackertes Feld. Wenn Marx in der, Dath sicherlich gut vertrauten, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie formuliert, „die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik“ und weiter, gewissermaßen als Grundbedingung allen (nichttrivialen) Forschens postuliert, „Der Mensch, der in der phantastischen Wirklichkeit des Himmels, wo er einen Übermenschen suchte, nur den Widerschein seiner selbst gefunden hat, wird nicht mehr geneigt sein, nur den Schein seiner selbst, nur den Unmenschen zu finden, wo er seine Wirklichkeit sucht und suchen muss“, dann stellt sich die Frage, wie sich in der, sagen wir künstlerisch-fiktiven Suche nach dem Über-Irdischen, die Suche nach der Wirklichkeit des Irdischen verorten lässt. Ob sich in der phantastischen Form tatsächlich der reale, irdisch-soziale Inhalt aufspüren lässt. Oder ob es am Ende nicht doch nur der „Schein seiner selbst“ ist, dem man bei derartigen Unternehmungen aufsitzt.
„Es gibt mehr Ding‘ im Himmel und auf Erden, als eure Schulweisheit sich träumt.“ (Hamlet, I./V., Schlegel) Die düsteren Ahnungen kommenden Unheils des eigentlich der wittenbergischen Rationalität verpflichteten Dänenprinzen, scheinen gewissermaßen leitmotivisch Daths Bemühungen zu begleiten. „Die Zeit ist aus den Fugen. Weh’ mir zu denken, dass ich geboren ward’, sie wieder einzurenken!“ (I./V.) Shakespeare sieht den Zusammenbruch der ehemals geordneten, feudalen Welt, lebt in der Übergangsgesellschaft des Absolutismus, in der sich („Der Kaufmann von Venedig“) die wenig erfreulichen Umwälzungen der kommenden bürgerlich-kapitalistischen Profitgesellschaft längst andeuten. Wie Hamlet zögert auch Dath, er legt sich nicht fest, weicht auf Jenseitiges, auf Denkmöglichkeiten jenseits der Wirkung-Ursache-Logik, der linearen Zeit-Rationalität aus. Eine prononcierte „Message“ sucht man vergeblich. Außer vielleicht jener, dass es die Eindeutigkeiten und Sicherheiten von „Messages“ nicht gibt. Dafür erfüllt sich die zerstörerische Kraft der düsteren Ahnungen und Andeutungen in seinem Buch umso eindeutiger und sicherer. „Leider bin ich tot“.
„Habe nun ach! Philosophie, Juristerei und Medizin, und leider auch Theologie! durchaus studiert mit heißem Bemühn. Da steh ich nun, ich armer Tor! (…) und sehe, dass wir nichts wissen können! Das will mir schier das Herz verbrennen!“ Auch Goethes Faust teilt Hamlets und Daths Erkenntnisskepsis. Er ist bekanntlich bereit nicht nur die Existenz eines Jenseitigen anzuerkennen, sondern auch, in einem sehr diesseitigen Erkenntnisinteresse, sich daran zu verkaufen. Wobei das Jenseitige, Mephisto, bei Goethe eher als durchaus diesseitiges, dialektisches Entwicklungsprinzip, als „ Geist, der stets verneint“ und „Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, daherkommt, denn als wohlmöglich allmächtige, religiös-metaphysische Negativkategorie. Goethe veröffentlicht „Faust I“ 1808. Auch ihm ist die „Zeit aus den Fugen“. Gerade ist der Expansionismus Napoleons dabei alle aufklärerisch-republikanischen Illusionen abzuräumen. Statt vernunftgeleitet in Kants „ewigem Frieden“, befinden sich die europäischen Mächte im geostrategisch motivierten großen Krieg um die Grundlagen zur globalen Vorherrschaft: „Da steh ich nun, ich armer Tor!“
„Die Zerstörung der Vernunft“ (Lukács), welche mit der Entwicklung des Kapitalismus und erst recht mit der des Imperialismus einher ging, ist kaum umfassender vorstellbar als im atomaren Overkill und im anthropogenen Klimagau. Seit 1989 mit der Großen Alternative auch die Chance (!) auf Überwindung der Kriegs-, Krisen- und Profitlogik zusammenbrach, erschien (und erscheint) die Zementierung der Irrationalität vollständig. Die Chance auf Rückgewinnung der Vernunft entschwand sukzessive, selten bewusst, aber immer bedrohlicher aus dem Bereich des Denkmöglichen. Entsprechend kleinteilig bleiben die „Lösungs“ansätze. Ob „es nicht vorstellbar wäre, dass nicht der ‚liebe Gott‘ unsere Sprache verwirrt hat, sondern dass wir die Sprache von etwas verwirrt haben, das größer und stärker ist als wir selber – nämlich des ganzen Weltsystems, des sozialen Weltsystems, in dem wir leben“, fragt Dath in einem Deutschlandfunk-Interview. Auch ihm ist die „Zeit aus den Fugen“. „Gewissen, Mitgefühl“, lässt er seine „Heldin“ Cyan/Kain sagen, „Weißt du, das ist etwas für Leute, die leben. Aber leider bin ich tot.“
1947 schreibt Thomas Mann in „Doktor Faustus“: „Deutschland, die Wangen hektisch gerötet, taumelte dazumal auf der Höhe wüster Triumphe, im Begriffe, die Welt zu gewinnen kraft des einen Vertrages, den es zu halten gesonnen war und den es mit seinem Blute gezeichnet hatte. Heute stürzt es, von Dämonen umschlungen, über einem Auge die Hand und mit dem anderen ins Grauen starrend, hinab von Verzweiflung zu Verzweiflung.“ In Adrian Leverkühn verkauft sich das deutsche Volk für seine „wüsten Triumphe“ an den/die braunen Teufel. Und muss diesen „mit Blut gezeichneten Vertrag“ fast mit seiner Existenz bezahlen. Der aufziehende Kalte Krieg begann nicht nur die Hoffnungen einer postfaschistischen rationalen Humanität zu zerstören. Mehr noch. Die Bombe gestattete dem Irrationalismus erstmals, die Existenz der gesamten Spezies in Frage zu stellen.
In „Leider bin ich tot“ wird aus dem genialen Tonsetzer eine deutsche Black-Metal-Band mit (neo)faschistischen Wurzeln und Bezügen. Auch sie kämpft – mit der entsprechenden Unterstützung, „die germanischen Götter, Satan, Hitler, alles zusammen“ und einer äußerst begabten Einflüsterin – um den großen Auftritt. Die ultimative Show. Entsprechend spektakulär dann auch der Horror Infernal, der Totentanz, in dem die ganze Szenerie am Ende untergeht.
Dath schließt mit einem fast idyllisch-bukolischen Relativismus. Wiederholt kommt ein literarischer Doppelgänger des britischen Philosophen Galen Strawson ins Spiel. „Ob man der Sohn ist oder der Vater, man weiß es nicht.“ Strawson ist nicht die einzige reale Person, die Dath fiktiv in seinen Roman eingebaut hat. Seine eigene übrigens auch. „Wie man das, was sich abgespielt hat, im Weiteren bewertet“, schließt Dath ganz im Sinne des realen Strawson, „hängt wohl davon ab, ob man sich dazu entschließen kann, Cyan/Kain für böse zu halten oder nicht.“ Dass sie/er, Cyan/Kain, das „Böse“, auch weiterhin in der Welt ist, und „größer werden“ will, daran lässt der Autor keinen Zweifel.
In der literarischen Auseinandersetzung mit der tiefen Widersprüchlichkeit der Klassengesellschaften kann der Irrationalismus seinen symbolischen Ausdruck natürlich auch im Mythos, im Jenseitigen, in Mephisto finden. Bei Shakespeares Hamlet steht der (positive) Geist für die (drängend-mahnende) historische Herausforderung des Menschen an der Schwelle zwischen mittelalterlichem Universalismus und aufgeklärter Moderne. Bei Goethe und erst recht bei Thomas Mann ist es (negativ) die zynische Versuchung der bürgerlichen Aufklärung durch die politökonomisch-machtpolitischen Verführungsmittel der kapitalistischen/imperialistischen Gesellschaft. Diese große Linie ist aus dem im Buch angedeuteten Pantheismus schwer heraus zu lesen. Allenfalls das objektiv-real Mögliche des Blochschen Prinzips Hoffnung: „Diese Leute und solche wie sie, sind die einzige Hoffnung, die ein Mensch braucht“, heißt es am Ende über zwei der überlebenden Freunde „des Journalisten“.
„Wenn Marx Recht hat und es Opium ist, dann kann man ja sagen, nur ein verbissener Puritaner würde sagen, damit muss es automatisch verboten werden, weil es Opium ist. Man kann ja einen verantwortungsvollen Umgang mit Rauschmitteln durchaus anstreben“, antwortet Dath in besagtem Interview. Ja, mit manchen Rauschmitteln sicherlich. Aber mit Religion?