Kapitalistische Pandemiebekämpfung und „Protestspaziergänge“ in Sachsen

Über das Scheitern

Paul Dimmel

Der staatsmonopolistische Kapitalismus befindet sich in der Systemauseinandersetzung mit der VR China und anderen Staaten des sozialistischen Weges: Hier Überproduktionskrisen, Staatschaos und regelmäßige Unzufriedenheit – dort streng regulierter Markt, Führung durch die Kommunistische Partei und Wohlstandsvermehrung. Hier führen die Versuche, eine hoch ansteckende und vor allem für Risikogruppen tödliche Infektion einzudämmen, zu Protesten – dort zu neuen Hygienegewohnheiten und Solidarität unter den Massen.

Die wissenschaftlich-technische Entwicklung mit ihrer erhöhten Pandemiegefahr erfordert menschheitliche Kulturveränderung und wo dies nicht geschieht, zeigt sich schonungslos die Rückständigkeit der kapitalistischen Zustände. So auch in der Bundesrepublik Deutschland: Das Finanzkapital wird mächtiger, das Kleinbürgertum wird ruiniert. Die Arbeiterklasse ist tief gespalten und ideologisch desorientiert. Der besserbezahlte, verbürgerlichte und vom Kapitalismus zum Teil verdorbene Teil der Arbeiterklasse bei VW, Bosch und Konsorten konnte sich bisher ein komfortables Leben einrichten. In der Hoffnung, den eigenen Abstieg zu verhindern, hält diese Arbeiteraristokratie still und übt Verzicht. Sie wählt und bezahlt in Staat und Gewerkschaft diejenigen, die die Interessen der Bourgeoisie durchsetzen.

Am meisten zu leiden haben die aus allen Nationen stammenden und in Armut lebenden Menschen. Die Kommunistische Partei hat nur wenig Kontakt zu diesen Bereichen der Klasse und ist nicht in der Lage, ihnen eine Perspektive zu zeigen.

Spontaner Protest

Derzeitige Protestbewegungen setzen sich sozial hauptsächlich aus kleinbürgerlichen Schichten und arbeiteraristokratischen Teilen der Arbeiterklasse zusammen. Ideologisch findet sich bei „Pegida“ der sich rechts verstehende Teil ein; bei „Unteilbar“ und „Fridays for Future“ der sich links verstehende Teil. Dazwischen gibt es ideologische Mischungen bei „Aufstehen“, „Querdenken“ und „Spaziergängern“. Diesen Teilen der Bevölkerung erschien der staatsmonopolistische Kapitalismus bisher als nützlich. Das Wesen der Forderungen dieser Bewegungen ist deshalb die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit des Staates, der Gesellschaft und der Wirtschaft entweder über reaktionäre Maßnahmen oder über Reformen.

Im Freistaat Sachsen, ehemals Hort der protestantischen Kulturblüte, proletarisches Zentrum und sozialdemokratisch-kommunistische Festung gegen Kapp-Putsch und Faschismus, findet sich die bizarrste Neuheit dieser Erscheinungen: Dort tummeln sich seit einiger Zeit Zehntausende, um gegen die mit der Corona-Pandemie begründeten Regierungsmaßnahmen zu protestieren. Sie treffen sich – in antikommunistischer Tradition – vor allem montags.

Am 3. Januar verzeichnete die Polizei Sachsen über 150 Versammlungen mit Corona-Bezug mit mehr als 20.000 Menschen. In der Woche darauf waren es 30.000 Teilnehmer auf 215 Kundgebungen. Koordiniert werden diese „Spaziergänger“-Versammlungen nach dem „Schneeballverfahren“ im „Telegram“-Kanal „Freie Sachsen“. Dieser hat sich zu einem eigenständigen sozialen Netzwerk mit weit über 100.000 Angemeldeten entwickelt, die Berichte von Aktionen tauschen oder Zeitungsartikel und Gesetzesänderungen teilen.

„Freie Sachsen“

Initiator des Kanals ist die Partei „Freie Sachsen“. Sie wurde 2021 gegründet und trägt – offenbar zwecks Traditionssimulation – denselben Namen wie eine 2007 gegründete und später wieder aufgelöste Wählervereinigung aus dem Spektrum der „Freien Wähler“. Im Vorstand sitzen Mitglieder von NPD und „Pro Chemnitz“ – alles Kommunalpolitiker, die vermutlich hoffen, mit der Forderung eines autonomen Sachsen bei den nächsten Landtagswahlen ins Parlament zu kommen.

Vorstandsmitglieder der „Freien Sachsen“ sollen Kontakte zu zahlreichen faschistischen Funktionären und Schlägern haben. Der Fackelaufmarsch vor dem Haus der sächsischen Gesundheitsministerin am 3. Dezember deutet auf das Testen faschistischer Symbolik hin. Auszugehen ist von einer mindestens dreistelligen Anzahl von Mitgliedern und engerem Umfeld.

Die „Telegram“-Agitationsstrategie ist „antifeudal-liberal“: Der sächsische Ministerpräsident wird als „König“, Polizisten als „Milizen“ und die Regierungsparteien als „herrschende politische Kaste“ bezeichnet, die ihre Willkürherrschaft gegen die friedlich demonstrierenden Bürger auslebe. Gleichzeitig wird sozial argumentiert: Die Zustände in Pflege, Schulen und Alltag seien durch die Corona-Verordnungen stark verschlechtert worden. Man wolle das verbessern, indem man sich noch enger mit den Nachbarstaaten Ungarn, Tschechien, Polen und der Slowakei statt mit dem Westen der BRD verbindet. Es wird der Eindruck erweckt, einzig und allein die gewählten Politiker, die sich wie Despoten aufführten, wären für die gesellschaftliche Entwicklung verantwortlich. Das Monopolkapital wird nicht erwähnt – außer den Pharmakonzernen, deren Profitgier im Programm der „Freien Sachsen“ angeprangert wird. Lösungsansatz der „Freien Sachsen“: Die schlechten Politiker werden einfach durch neue – natürlich aus der eigenen Partei – ersetzt. Eine Argumentation, die sie grundsätzlich mit den Landtags- und Bundestagsfraktionen aller Parteien teilen und auf den kleinbürgerlichen Charakter dieser Partei und der mit ihr sympathisierenden „Spaziergänger“ verweist.

Bezugspunkt Ostdeutschland

Die Forderung, das sächsische Königshaus bei der Gestaltung der Zukunft Sachsens einzubinden, wirkt auf Nichtsachsen vermutlich vor allem absurd. In der Programmatik gibt es Hinweise auf faschistische Rhetorik, etwa „die mittelständischen Unternehmen sind das Rückgrat einer gesunden Gesellschaft“. Auffällig ist der große Bezug zu Ostdeutschland. Beispielsweise wird gefordert: „Mehr als 30 Jahre nach der ‚Wende‘ sind Verwaltungsleute, Richter und Journalisten aus dem Westen, die gezielt in Schlüsselstellungen installiert wurden, wieder geregelt in ihre Heimatländer zurückzuführen“ – eine für Sachsen geschickt gewählte Formulierung, der sich hinter vorgehaltener Hand sicher mehr als drei Viertel aller Landesbewohner anschließen können. Die darin geäußerte Vorstellung eines die Zustände bessernden Austauschs der Führungen von Verwaltung, Justiz und Medien bei Beibehaltung monopolkapitalistischer Zustände entspricht in dieser Form großen Teilen des sächsischen Massenbewusstseins, in dem auch ein tief verwurzelter Nationalstolz fortlebt. Dieser speist sich aus der sächsisch-royalistisch begründeten Abneigung gegen Preußen und Frankreich, die Sachsen besetzt hielten. Der Nationalstolz war nur zeitweise im DDR-Sozialismus auf der menschheitsgeschichtlich höheren Stufe der Völkerfreundschaft aufgehoben.

Umso hässlicher ist der allgegenwärtige Bezug der „Freien Sachsen“ auf diesen Nationalstolz, da damit versucht wird, die Erinnerung an das dank Roter Armee und SED ruhmvollste Kapitel der sächsischen Geschichte auszulöschen: die dort aufgebaute sozialistische Industrie, Wissenschaft und Kunst. Nicht zuletzt sind die meist von den Eltern und Großeltern der selbsternannten Freiheitsfreunde geschaffenen Schulen, Krankenhäuser und Wohnungen die Grundlage dafür, dass diese undankbaren Pseudorebellen bis heute relativ gesund und gebildet ihr Leben gestalten konnten.

Schwäche der Arbeiterklasse

Möglich gemacht hat diese Entwicklung die Schwäche der gesamtdeutschen Arbeiterklasse. Erwerbslos oder mit gerade genug Lohn zum Leben, müssen Millionen wirklich entscheiden, ob sie lieber hungern oder frieren wollen. Der privilegierte Teil der Klasse ist froh, wenn es ihn nicht trifft. Dazu beigetragen hat seine jahrzehntelange Einlullung durch das von ihm selbst finanzierte und gewählte politische Personal des Monopolkapitals bei SPD, Grünen und Linkspartei – einschließlich des öffentlichen Rundfunks und Fernsehens. Dazu kommt der private Presseapparat von „Spiegel“ über „Zeit“ und „taz“ bis zum „Neuen Deutschland“. Nicht zu vergessen: die arbeiteraristokratisch orientierten Gewerkschaftsfunktionäre.
So protestieren bundesweit vor allem die Menschen, die CDU, FDP und AfD zuneigen, schimpfen auf die „Versager“ in den von ihnen gewählten Regierungsparteien und scheren sich gleichzeitig – wie schon immer – einen feuchten Kehricht um arme und schwerkranke Menschen. Wer an Corona stirbt, war ja entweder sowieso schon alt und hätte bald sterben sollen, hatte Vorerkrankungen, zu wenig Immunstärke oder ist einfach gar nicht an einer Covid-Infektion gestorben – weshalb jämmerliches Ersticken in frischer Luft, isoliert von Familie und Freunden, auch quasi niemandem passiere. Dass ein gesunder Lebenswandel sowie Freiheit von Erb- und anderen schwereren Krankheiten vor dem Sterben schützt, ist unbenommen – Kapitalisten, Grundbesitzer und deren gut bezahlte „Agenten“ machen es ja vor –, aber die Renitenz, mit der sogar Gefährdungswahrscheinlichkeiten für null und nichtig erklärt werden, verweist auf eine psychologische Speisung durch tiefer liegende Vorurteile.

Aufgaben der Kommunisten

Die aktuelle Form der Corona-Proteste in Sachsen ist nicht der Anfang einer faschistischen Bewegung. Ablehnung von Impfpflicht, Lockdowns und Maskenpflicht sind keine Forderungen nach Oppositionellen- und Ausländerinternierung, Monopoldiktatur und imperialistischem Weltkrieg und werden das auch nicht mal eben – selbst bei geschicktester Manipulation heuchelnder Führungsgruppen. Gleichzeitig ist das kein Grund für Kommunisten, bei den Protesten mitzulaufen. Nach Einschätzung der jeweiligen Bedingungen kann es sinnvoll sein, kommunistische Inhalte in diese Bewegung zu tragen. So könnte ein sauber gemaltes, sechs mal zwei Meter großes Transparent an langen Stangen – beispielsweise in Sachsen mit der Aufschrift „Misstrauen gegen diesen Staat und seine Wissenschaft sind berechtigt – sie handeln im Sinne des Monopolkapitals. Nur Kommunisten können die Gesundheit des ganzen Volkes sicherstellen – die VR China macht’s vor!“ für einiges an Zündstoff vor Ort und in der Presse sorgen. Denn die Schwäche der Arbeiterklasse ist die Schwäche der Kommunistischen Partei: Kleinbürger lachen über kleine Gruppen unter roter Fahne, weil die Fahne hierzulande weder Massen noch wissenschaftlich geschulte Kader mit Massenverankerung repräsentiert.

Um dies zu ändern, müssen dort erst die klügsten und leidenschaftlichsten Kollegen, Freunde und Nachbarn beisammen stehen. Sie brauchen einen klaren Plan, wie sie in Staat und Wirtschaft die Führung übernehmen wollen. Dafür gilt es, den Betriebs- und Gebietszellenaufbau unter Ausnutzung aller Medien, wissenschaftliche Kaderschulung und öffentlichkeitswirksame Aktionen zu organisieren. Nichts ist gerade wichtiger und wird mehr gebraucht: die Stärkung der Kommunistischen Partei.

Unser Autor Paul Dimmel hat sich bei den letzten Spaziergängern unter Demonstranten und Gegendemonstranten gemischt und einen Erfahrungsbericht erstellt.

03 13 02 Sachsen - Über das Scheitern - §dpa, Corona-Pandemie, Proteste - Hintergrund
Die Corona-Politik der Bundesregierung geht vor allem auf die Knochen der Beschäftigten im Gesundheitswesen. Auch von ihnen reihen sich – mangels Alternativen – Kolleginnen und Kollegen in die Protest-Demos ein. (Foto: picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Sebastian Kahnert)

Corona-Impfung und Kapitalismus

Die Aussage, dass bestimmte Impfstoffe Gentechnik beinhalten und deshalb automatisch eine größere Gefahr für eine langfristige genetische Veränderung des eigenen Organismus bestünde, ist ein durch religiös und naturesoterisch begründete Anti-Gentechnik-Kampagnen hervorgerufener Irrglaube. Weder sind gentechnische Veränderungen bei Menschen, Tieren oder Pflanzen an sich schlecht noch darf sich die Menschheit aus voraufklärerischen „Gewolltheits“- oder Natürlichkeitsvorstellungen heraus die Chancen gentechnischer Fortschritte entgehen lassen. Die gesellschaftliche Seite des Problems sind die Profitinteressen des Monopolkapitals. Die wissenschaftlich-technische Seite ist das mangelnde Verständnis organismischer Wechselprozesse und ihrer Antizipierbarkeit unter den Bedingungen bewusst hervorgerufener genetischer Veränderungen. Das bedeutet, dass es ein Restrisiko gibt, dass mRNA-Impfstoffe Nebenwirkungen hervorrufen könnten. Die Angst davor, bei Langzeitschäden alleingelassen und im schlimmsten Falle für verrückt erklärt zu werden, ist vollkommen nachvollziehbar, da dies im Kapitalismus üblich ist. Deshalb agitieren Kommunisten in jedem Fall für Impfungen, ohne zu verschweigen, dass man Langzeitschäden nicht ausschließen kann. Das muss verbunden werden mit einer gesellschaftlichen Einordnung und der Forderung, Bedingungen zu schaffen, unter denen eventuelle Schäden nicht auf die Einzelnen abgewälzt werden und Unterstützung sowie Schadenersatz nicht erst durch langwierige Gerichtsverfahren zu erreichen sind. Die Forderung nach einer staatlich durchgesetzten Impfpflicht in dieser Gesellschaftssituation, mit den damit verbunden Straf- und Zwangsandrohungen sowie den darauf folgenden Ängsten in der Bevölkerung, ist dagegen klassisch obrigkeitsstaatliches Denken in der Tradition von Bismarck und Lassalle.

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"Über das Scheitern", UZ vom 21. Januar 2022



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