Niger hebt Gesetz zur Verhinderung von Migration in die EU auf

Trotz Hungerblockade nicht mehr erpressbar

Das Gesetz 2015-36 wurde von Nigers Parlament am 26. Mai 2015 beschlossen. Es sieht vor, dass mit hohen Geld- oder gar mit Haftstrafen von bis zu zehn Jahren zu rechnen hat, wer Personen ohne nigrische Staatsangehörigkeit oder ohne dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Niger beim Überschreiten der Grenzen des Landes unterstützt und daraus direkt oder indirekt materiellen Vorteil zieht. Der Gesetzestext war auf Druck aus der EU und mit finanzieller Unterstützung durch zwei EU-Mitgliedstaaten erarbeitet worden – Italien und Dänemark –, und zwar in einer Zeit, in der Niger sich unter Außenminister Mohamed Bazoum (2011 bis 2016) als loyaler Helfershelfer der EU-Flüchtlingsabwehr zu profilieren suchte.

Afrikanische Gendarmen Europas

Wenig später etwa erklärte Niger sich im November 2015 auf dem EU-Afrika-Gipfel in Malta zusätzlich bereit – als einziger afrikanischer Staat –, den Aufbau von EU-Zentren auf dem Kontinent zu ermöglichen, in denen Menschen Asyl in Europa beantragen können. Damit habe das Land sich deutlich „von seinen Partnern in der Afrikanischen Union entsolidarisiert“, die dieses Ansinnen eindeutig abgelehnt hätten, hieß es in einem Bericht; Kritiker hätten die Regierung in Niamey deshalb als „afrikanischen Gendarmen der Europäer“ attackiert.

Dabei ist das Gesetz 2015-36 von Anfang an scharf kritisiert worden. So steht es etwa in Widerspruch dazu, dass in der westafrikanischen Staatenorganisation ECOWAS, der Niger angehört, prinzipiell Freizügigkeit für alle Bürger aller Mitgliedstaaten herrscht. Sie wird jedoch durch das Gesetz real eingeschränkt. Eingeschränkt werden zudem Bürger von ECOWAS-Staaten, die völlig legal in einem Land Nordafrikas, etwa in Libyen oder in Tunesien, nach Arbeit suchen und auf dem Landweg dorthin reisen wollen. Ein Problem bringt das Gesetz auch für Menschen aus angrenzenden Sahel-Staaten, die fliehen müssen, etwa vor den in der Region aktiven dschihadistischen Milizen: Sie dürfen in Niger nun nicht mehr auf legale Unterstützung hoffen. Hinzu kommt, dass die nordnigrische Stadt Agadez sowie die umliegende Region seit je von Migration leben, einst von durchziehenden Karawanen, später vor allem vom Tourismus, zuletzt von Flüchtlingen auf dem Weg in die Anrainerstaaten des Mittelmeers. Nach der Verabschiedung des Gesetzes und der darauf folgenden Unterstützung der EU für Niger bei der Überwachung seiner Grenze wurde das gesamte Geschäft im Umfeld der Migration – von Fahrdiensten über die Vermietung von Unterkünften bis zur Nahrungsmittelversorgung – umfassend ruiniert.

Auf gefährliche Wege ­gezwungen

Vor allem wurden Flüchtlinge auf dem Weg nach Norden nur teilweise gestoppt, zu einem großen Teil aber auf abgelegenere, noch gefährlichere Fluchtrouten abgedrängt – abseits der Hauptwege durch die Sahara, die nun von nigrischen Militärs mit Gerät der EU überwacht wurden. Derlei Gerät stellte auch Deutschland bereit; im Jahr 2017 beispielsweise sagte Berlin, um Niamey „im Kampf gegen Schleuser … zu unterstützen“, die Lieferung von 100 Pick-ups, 115 Motorrädern, 53 weiteren Militärfahrzeugen sowie 55 Satellitentelefonen zu. Parallel zum Versuch der nigrischen Regierung beziehungsweise von Innenminister Bazoum (2016 bis 2021), die Wege durch die Sahara in Richtung Norden im Auftrag und mit Unterstützung der EU abzuschotten, stieg die Zahl der Todesopfer unter den Flüchtlingen rasant an. Das Missing Migrants Project der International Organization for Migration (IOM) konnte auf den Routen durch Niger für 2015 56 verstorbene oder verschwundene Flüchtlinge nachweisen, für 2017 bereits 433; kurz zuvor, Ende 2016, war das Gesetz 2015-36 endgültig in Kraft getreten. Einigkeit herrscht darüber, dass die Angaben des Missing Migrants Project zwar gut belegt, aber viel zu niedrig sind – aufgrund der wohl hohen Dunkelziffer. Diese ist bei Todesopfern abseits der Hauptrouten durch die Sahara noch höher als sonst.

Wie das französische Onlineportal „Mondafrique“ berichtet, hat Nigers Übergangspräsident Abdourahamane Tiani das Gesetz 2015-36 Ende vergangener Woche per Dekret aufgehoben. Dies hatten Einwohner insbesondere Nordnigers, aber auch Menschenrechtsorganisationen immer wieder gefordert. Ausgelöst habe den Schritt, dass die EU regelmäßig verlange, den gestürzten Präsidenten Bazoum (2021 bis 2023) wieder ins Amt zu bringen, und dass sie zudem die Sanktionen ausdrücklich unterstütze, die die ECOWAS gegen Niger verhängt habe, berichtet „Mondafrique“. Niamey sei daher nicht mehr bereit, der EU einen Gefallen zu tun.

EU unterstützt ­Hungerblockade

Die Entscheidung wurde am Tag nach der Verabschiedung einer Erklärung des Europaparlaments gefällt, in der das Parlament den Putsch in Niamey vom 26. Juli verurteilt und nicht nur verlangt, Bazoum wieder in sein früheres Amt einzusetzen, sondern auch auf die Verhängung konkreter Sanktionen drängt. Die EU hatte am 23. Oktober ein Rahmenwerk beschlossen, das Restriktionen gegen Nigrer prinzipiell ermöglicht; Guthaben in der EU können eingefroren, Visa verweigert werden. Das Europaparlament will nun Mitglieder der nigrischen Übergangsregierung konkret sanktioniert sehen. Zudem „begrüßt“ es die ECOWAS-Wirtschaftssanktionen gegen Niger.

Die Sanktionen belasten die nigrische Bevölkerung stark. Auch auf massiven Druck der EU hat die ECOWAS kurz nach dem Putsch eine totale Handelsblockade gegen Niger verhängt; die Grenzen sind geschlossen. Weder Nahrungsmittel noch Medikamente gelangen auf regulärem Weg in das Land; Nigeria, das zuvor ungefähr 70 Prozent der in Niger benötigten Elektrizität lieferte, hat den Stromexport dorthin eingestellt. Die Lebensmittelpreise sind in Niger, dem laut UN-Statistiken drittärmsten Land weltweit, bereits im Sommer schmerzhaft in die Höhe geschossen; der Vorrat an Medikamenten geht zur Neige, manche Mittel sind schon heute nicht mehr erhältlich. Ohne Schmuggel und ohne vereinzelte Lieferungen über das die Sanktionen nicht mittragende Burkina Faso, die allerdings Gebiete durchqueren müssen, in denen Dschihadisten oft Überfälle durchführen, wäre der Mangel noch schlimmer. Die ECOWAS setzt darauf, dass Nigers Bevölkerung, wenn man sie nur lange genug aushungert, die Übergangsregierung stürzt und den einstigen Präsidenten Bazoum, der stets loyal mit der EU kooperierte, wieder in Amt und Würden bringt. Die EU unterstützt dies. Dabei profitiert sie davon, dass die Hungerblockade gegen Niger – ganz im Unterschied zu anderen Blockaden – international keine Schlagzeilen macht und daher ohne politischen Schaden aufrechterhalten werden kann.

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"Trotz Hungerblockade nicht mehr erpressbar", UZ vom 1. Dezember 2023



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