Vor 30 Jahren siegte in der UdSSR die Konterrevolution. Nach sieben Jahrzehnten des sozialistischen Aufbaus wurde die Partei der Arbeiterklasse, die KPdSU, von innen heraus zerstört. Nach ihrer ideologischen Zersetzung erfolgte nach und nach die Vernichtung der ökonomischen Grundlagen des ersten sozialistischen Staates. UZ widmet dieser historischen Niederlage der internationalen Arbeiterbewegung eine Serie. In der ersten Folge beschäftigen wir uns mit der Situation von Mitte bis Ende der 1980er-Jahre; der Beitrag in der kommenden Ausgabe wird sich mit den Klassenkämpfen auf dem Höhepunkt der Konterrevolution befassen.
Im Prozess der Zerstörung der UdSSR haben die Ereignisse des Jahres 1991 besonders starke Einschnitte gebracht. Im Dezember 1991 wurde die UdSSR gegen den eindeutig bekundeten Willen des Volkes endgültig zerschlagen. Die Ursachen waren sehr vielgestaltig, sie waren innerer und äußerer Natur. Der zentrale Faktor dabei war die Entwicklung und Politik der KPdSU. Ihre Analyse der Prozesse und entstandenen Bedingungen innerhalb der UdSSR und im internationalen Klassenkampf sowie die daraus abgeleiteten Schlussfolgerungen und Mittel und Wege zur Lösung der Widersprüche bestimmten die weitere Entwicklung des ersten Anlaufs zum Sozialismus.
Zerschlagung der materiellen Grundlagen
Am Beginn dieses Prozesses standen die Probleme und Widersprüche, die eine Reformierung der sowjetischen Gesellschaft notwendig, ja unvermeidlich machten. Der damalige Ministerpräsident der UdSSR, Nikolai Ryschkow, der am Anfang Michail Gorbatschow unterstützte, sich aber später aufgrund der gemachten Erfahrungen von ihm absetzte, schrieb in seinem Memoirenband „Mein Chef Gorbatschow“: „Es lässt sich nicht leugnen, dass die Regierung mit der Reformierung des Landes begann, ohne vorher die notwendigen Schritte und deren langfristige Wirkungen ordentlich vorauszuberechnen.“ Partei- und Staatsführung verfügten über kein klares Aktionsprogramm.
Im Zentrum der Überlegungen stand die Frage des Eigentums. Der Standpunkt der Partei sah vor, 50 bis 60 Prozent des Eigentums in den Händen des Staates zu belassen – das betraf vor allem die Kernbereiche der Volkswirtschaft und die Rüstungsindustrie. Die übrigen 40 bis 50 Prozent sollten in Aktionärs- oder Privateigentum umgewandelt werden. Grund und Boden sollten im Besitz des Staates bleiben.
Dieser Position standen liberale Ökonomen, aber auch einflussreiche Politiker, angeführt von Alexander Jakowlew, dem späteren Vertrauten Gorbatschows, entgegen. Sie setzten allein auf das private Eigentum und behaupteten, dass nur dieses alle sozioökonomischen Probleme des Landes lösen könne. Davon ausgehend wandten sie sich gegen die offiziellen Vorschläge und traten für eine „soziale Marktwirtschaft“ mit entsprechenden staatlichen Regulierungen ein. Sie nutzten jede politische und juristische Möglichkeit, um ihre Vorstellungen durchzusetzen.
Bei der Verabschiedung eines Gesetzes über die Kooperation im Frühjahr 1988 sollte es um das von Gorbatschow offiziell verkündete Prinzip der „Vielfalt der Formen des sozialistischen Eigentums“ gehen. In der Diskussion wurde diese Aussage von Jakowlew und Co. zur „Vielfalt der Eigentumsformen“ transformiert – eine Wandlung der Politik von Grund auf. Die Möglichkeit der Veränderung der generellen Ausrichtung der gesellschaftlichen Entwicklung war geschaffen. Die „Entstaatlichung“ wurde zur Privatisierung und führte zum massenhaften Ausverkauf der wichtigsten Produktionsmittel zum Spottpreis, zur Entstehung der Oligarchen.
Als nächstes Ziel strebten die Konterrevolutionäre die Beseitigung des bestehenden ökonomischen Systems an. Das gelang ihnen durch den Ausbau ihrer Positionen in der Führung der KPdSU. Gesellschaftlich entwickelte sich aus der Verflechtung ökonomischer mit sozialen und politischen Faktoren eine Atmosphäre der Unzufriedenheit mit den bestehenden Lebensbedingungen, die neuen Druck und neue Widersprüche erzeugte.
Beseitigung des politischen Systems
Es waren aber nicht allein die Fragen der Wirtschaft und der Wirtschaftspolitik, welche die Lage verschärften. Gegen Ende 1987 verkündeten Gorbatschow und seine Unterstützer den Standpunkt, dass progressive Prozesse in der Wirtschaft nicht zu erwarten wären, solange sie nicht von politischen Reformen begleitet würden. Auf dem Plenum des ZK der KPdSU im Februar 1988 formulierte Gorbatschow: „Der Umbau unseres politischen Systems ist inzwischen unvermeidlich geworden.“ Die Gruppe um Jakowlew nutzte die persönliche Nähe zu Gorbatschow und verstand es auch in diesem Bereich, die Umsetzung dieser Notwendigkeit mit den Inhalten ihrer Auffassungen zu versehen.
Die Situation wurde genutzt, um der Partei ihre theoretisch-ideologischen und organisatorischen Fundamente zu entziehen und sie zum Instrument der antisozialistischen Kräfte werden zu lassen.
Gleichzeitig hatte sich 1989 die politische Lage im Land und in den anderen sozialistischen Staaten in Europa jäh verändert. Der Antikommunismus wagte es, sein wahres Gesicht zu zeigen. Während des Ersten Kongresses der Volksdeputierten im Sommer 1989 traten verschiedene Redner auf, die offen ihre Absicht verkündeten, dem Land zu helfen, indem sie es vom „Joch der KPdSU“ befreiten. Ryschkow, der schon zitierte aktive Teilnehmer an den damaligen Vorgängen, sprach von einer „paradoxe(n) Situation …, dass die mächtigste Partei in unserer Geschichte die Durchführung unumgänglicher Reformen nicht anführte, so wie das zum Beispiel die Chinesen taten und tun, sondern sich im Gegenteil dabei versteckte. Damit schuf die Partei faktisch selbst Bedingungen, unter denen es vergleichsweise schwachen Kräften gelang, sie aus der politischen Arena zu verdrängen.“
In dem Maße, wie die KPdSU ihren Einfluss auf die Volksmassen verlor, entstanden im Land – nicht ohne politische, materiell-finanzielle und logistische Unterstützung von außen – oppositionelle Bewegungen, die dann bei der Zerstörung des Staates und der Gesellschaftsordnung ihre Rolle gespielt haben.
Ausländischer „Beistand“
Es kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass sich Gorbatschow in den sechs Jahren als Generalsekretär elfmal mit dem Präsidenten der USA traf. Ryschkow fasst die Ergebnisse zusammen: „Im Ergebnis seiner Politik mit vielen einseitigen Zugeständnissen fiel die Berliner Mauer, wurden der Warschauer Pakt, die sozialistische Staatengemeinschaft und die Sowjetunion selbst zerstört. Das war das schändliche Ergebnis der Übereinkunft Gorbatschows mit seinem Freund Helmut Kohl im Staatsjagdhaus bei Archys im Kaukasus.“
Es ist unstrittig, dass die Außenpolitik Gorbatschows den Interessen des Westens entgegenkam und allzu oft zulasten der UdSSR ging. Diese Politik schwächte nicht nur die eigene Position auf der weltpolitischen Ebene. Sie ermöglichte auswärtige „Hilfe“ und begünstigte den Einfluss des Westens auf die Bevölkerung der UdSSR und die dortigen Aktivitäten antisowjetischer und antisozialistischer Kräfte. Daran anknüpfend wurden während der Amtszeit Boris Jelzins in den 90er-Jahren Treibhausbedingungen für die Oligarchen geschaffen. Jene inneren und äußeren Faktoren, die Ende 1991 zur Zerstörung der UdSSR führten, konnten so gedeihen und sich so entwickeln, dass sie zu einer Gefahr für die Existenz des russischen Staates geworden sind.
Michail Sergejewitsch Gorbatschow, geboren am 2. März 1931, war von März 1985 bis August 1991 Generalsekretär des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (KPdSU) und von März 1990 bis Dezember 1991 Staatspräsident der Sowjetunion. 1990 wurde ihm der Friedensnobelpreis verliehen. Vor seiner Wahl zum Generalsekretär leitete er die Region Stawropol im Nordkaukasus und war im ZK zuständig für Landwirtschaft. Jelena und Alexander Charlamenko charakterisieren ihn folgendermaßen: „Leute, die Gorbatschow von Stawropol her kannten, empfanden seine Wahl als schlechtes Omen. Dafür war Frau Thatcher (britische Premierministerin von 1979 bis 1990 – UZ), die sich mit ihm im Dezember 1984 in London traf, sehr zufrieden: Als erster sowjetischer Gast hielt Gorbatschow es nicht für nötig, das Grab von Marx zu besuchen. Jetzt, im Nachhinein, stellt sich Gorbatschow als jemand dar, der bewusst ins feindliche Lager eingedrungen ist, um den ‚Kommunismus‘ von innen heraus zu vernichten. Es ist mehr als lächerlich, sich in einer solchen Rolle darzustellen – ist er doch ein Mensch, dem dazu, gelinde gesagt, die Statur fehlt.“
Alexander Nikolajewitsch Jakowlew (2. Dezember 1923 bis 18. Oktober 2005) war Mitglied des Politbüros und engster Berater Gorbatschows. Die Charlamenkos schreiben über ihn: „Viele Jahre diente er im Apparat des ZK als unauffälliger Beamter. Erst Jahre später erschienen in der Presse Angaben über seine 1959 erfolgte Reise in die USA in Begleitung des KGB-Offiziers O. Kalugin, der einige Jahre zuvor den Studenten Boris Jelzin vor Unannehmlichkeiten bewahrt hatte – wegen Rowdytums infolge von Trunkenheit. Jenseits des Ozeans hatten die beiden noch unbedeutenden Funktionäre aus unerfindlichem Grunde eine Begegnung mit einer hohen Charge der CIA. 1982, nicht lange nach Breschnews Tod, entlarvte das KGB im Moskauer Institut für Weltwirtschaft eine Gruppe, die eine Zeitschrift im samisdat (Selbstverlag) herausgegeben hatte. Das Vergehen wurde als so schlimm eingestuft, dass eine Reihe wissenschaftlicher Mitarbeiter verhaftet und andere aus der Partei und dem Komsomol (Jugendverband der KPdSU – UZ) ausgeschlossen wurden. Der Direktor des Instituts beging Selbstmord. In seinen Sessel setzte sich – Jakowlew, und er veröffentlichte postwendend ein Buch, in dem er in der Terminologie der 50er-Jahre den amerikanischen Imperialismus anprangerte. Gorbatschow kannte Jakowlew schon aus Kanada (Jakowlew war dort einige Jahre als Botschafter tätig – UZ), wohin er gereist war, um landwirtschaftliche Erfahrungen zu sammeln. Er machte ihn sofort für ‚Ideologie‘ zuständig, als es um die Neubesetzung des Apparats ging.“
Nikolai Iwanowitsch Ryschkow, geboren 1929 in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik, war von 1985 bis 1991 Vorsitzender des Ministerrates der Sowjetunion. Er trat 1956 der KPdSU bei. Ryschkow war Schweißer, studierte, wurde Chefingenieur und zeitweilig Direktor in der Montanindustrie. 1981 wurde er Mitglied des ZK und ein Jahr später Leiter der Wirtschaftsabteilung.
Perestroika und Glasnost
Die von Gorbatschow verkündete Politik der „Perestroika“ (Umbau, Umgestaltung – UZ) wurde unter der Losung „Mehr Sozialismus, mehr Demokratie“ begonnen. Die Losung schien den objektiven Erfordernissen der Entwicklung der sowjetischen Gesellschaft und den Interessen des sowjetischen Volkes zu entsprechen und die Perestroika wurde von breitesten Schichten der Werktätigen und unseren Freunden im Ausland unterstützt. Der Aufruf zu Glasnost (Öffentlichkeit – UZ) fiel ebenfalls auf fruchtbaren Boden: Die Menschen sehnten sich nach objektiver Information über ihr Land und die Welt. Doch bald stellte sich heraus, dass Perestroika und Glasnost, ähnlich wie die „Kritik des Personenkults und seiner Folgen“ durch Chruschtschow, nur dazu dienten, sie gegen die jeweiligen Rivalen im Machtkampf demagogisch zu nutzen. Auf dem 27. Parteitag der KPdSU im Februar/März 1986 war keine Rede von einer grundlegenden Veränderung des Systems der Leitung der Volkswirtschaft. Von der Tribüne herab wurden Treueschwüre auf Lenin abgegeben, wobei sich Jelzin besonders hervortat. Aber schon kurz darauf beseitigte man das mittlere Glied in der Leitungskette der Wirtschaftszweige, das die Grundlage des Informationssystems der Planwirtschaft darstellte. Statt es auf die Computertechnologie umzustellen, wurden fast 600.000 Spezialisten im Zentrum und in den Republiken einfach entlassen und deren Karteien in Lagerhallen verbannt. Wie schon unter Chruschtschow wurden wiederum Ministerien zusammengelegt oder aufgeteilt. Der Apparat zur Leitung der Wirtschaft wurde vollkommen desorganisiert.
Gleichzeitig wurde auch gegen ein anderes Standbein des sowjetischen Wirtschaftssystems ein Schlag geführt: Das staatliche Außenhandelsmonopol wurde de facto aufgehoben. Seit dem 1. Januar 1987 wurde 20 Ministerien und 70 Großunternehmen gestattet, selbst Export und Import zu betreiben; ein Jahr später wurden das Ministerium für Außenhandel und das Staatskomitee für Außenwirtschaftsbeziehungen aufgelöst.
Einen neuen Anstoß erhielten Spekulation und Korruption durch Versuche, mit administrativen Methoden den tiefverwurzelten Alkoholismus zu bekämpfen. Der eingeschränkte Wodkaverkauf wurde durch dessen „Schatten“produktion (140 bis 150 Dekaliter im Jahr 1987) völlig kompensiert. Die am Budget vorbeilaufenden Schatteneinkünfte betrugen 1989 23 Milliarden Rubel und 1990 35 Milliarden. Auf dieser Grundlage wurde das organisierte Verbrechen erstmals zu einer großen Wirtschaftskraft. Die Ausdehnung des Schwarzmarktes und seine Legalisierung drückten sofort den Lebensstandard der Werktätigen.
Aus: Jelena und Alexander Charlamenko: „Revolution und Konterrevolution in Russland“, erschienen im Neue Impulse Verlag und dort zu beziehen.