Hohe Gewinne der DAX-Konzerne und trübe Zukunftsaussichten

Traurige Rekorde

„Rekordquartal für DAX-Konzerne – Bestmarken bei Umsatz und Gewinn“, meldet die Nachrichtenagentur dpa. Sie beruft sich auf Zahlen der Beratungsfirma „Ernst & Young“, denen zufolge die DAX-Konzerne ihren Umsatz im ersten Quartal 2022 um 14 Prozent auf 444,7 Milliarden Euro steigerten. Der Vorsteuer-Gewinn sei sogar um 21 Prozent auf 52,4 Milliarden Euro gestiegen. Das wäre der höchste jemals im ersten Quartal gemessene Gewinn – „viele deutsche Börsenschwergewichte“ präsentierten sich „in Topform“, jubelt dpa.

Genauer betrachtet ergibt sich ein weit weniger prächtiges Bild. Der Vergleichszeitraum ist das Krisenquartal I/2021. Richtig ist, einige Großkonzerne konnten in I/2022 laut „Ernst & Young“ satte Profite einfahren. Bei VW sind es demnach 8,3 Milliarden Euro, bei der Telekom 6,3 Milliarden, bei Mercedes Benz 5,2 Milliarden, bei Bayer 4,2 Milliarden Euro und bei BMW 3,4 Milliarden Euro. Doch die Profite der großen, international tätigen Unternehmen sagen wenig über den Zustand der deutschen Ökonomie insgesamt und noch weniger über die Lage der Arbeiterklasse aus. Der VW-Konzern beispielsweise erzielt über 80 Prozent seiner Umsatzerlöse im Ausland. Ohne den prosperierenden chinesischen Markt, den größten weltweit, ohne die Boom-Towns in Ost- und Südostasien wären diese Umsätze und Profite der deutschen Exportindustrie auch nicht ansatzweise zu erreichen gewesen.

Doch sind längst nicht alle deutschen Unternehmen in der Lage, ihre Produkte weltweit zu vermarkten. Die überwältigende Mehrheit ist auf den deutschen Markt, auf die Kaufkraft ihrer in Deutschland lebenden Kunden angewiesen. Sie wurden von den Lockdown-Maßnahmen der Bundesregierung in der Corona-Krise hart getroffen.

Die Großindustrie hat dank großzügiger Staatshilfen die Dürreperiode relativ gut überstanden. Vielen kleineren und kleinen Unternehmen ging es weit weniger gut. Sie existieren nur noch wegen der Aussetzung der Insolvenzantragspflicht. Im März 2022 sind die Insolvenzen im Vergleich zum Vormonat um 27 Prozent gestiegen. Es ist zu befürchten, dass die staatlich genehmigte Insolvenzverschleppung jetzt mit Verzögerung zu einer Pleitewelle führt.

Die „Topform“ der DAX-Riesen speist sich aber auch aus einer nachholenden Kaufbereitschaft nach dem Ende der Corona-Maßnahmen. Vieles ist auf bessere Zeiten vertagt worden – und diese scheinen mit dem „Rekordquartal I/2022 gekommen. Die Zahl der offiziell Arbeitslosen ging auf 2,3 Millionen ebenso zurück wie die Zahl der Unterbeschäftigten auf 3,06 MillionenDazu sind allerdings die sogenannten verdeckt Arbeitslosen mit rund einer Million zu zählen, plus 723.000 Bezieher von „konjunkturellem Kurzarbeitergeld“. Je tiefer man auf der sozialen Stufenleiter der Bundesrepublik angesiedelt ist, umso härter die Krise.

Die Frühjahrserholung in den oberen Segmenten der Gesellschaft droht allerdings mit einem Paukenschlag zu Ende zu gehen. Mit der „Mutter aller Sanktionen“ gegen Russland wurden die Perspektiven derartig düster, dass die Corona-Maßnahmen dagegen wie eine kühle Frühlingsbrise wirken.

Die ökonomischen Prioritäten der Bundesregierung haben sich unter den Bedingungen des US-geführten anti-russischen Kreuzzuges zu einer Art ökologisch verbrämtem Suizid-Kommando und zu einem Mega-Booster für die US-amerikanische Rüstungs- und Fracking-Industrie entwickelt. Wie sich unter den Bedingungen des von Berlin/Brüssel angekündigten Selbstboykotts fossiler Energie Kosten und Versorgung entwickeln, steht völlig in den Sternen. Dass selbst DAX-Bosse wie der Bosch-CEO Stefan Hartung öffentlich vor diesem ebenso absurden wie kontraproduktiven Glaubenskrieg warnen, ist bemerkenswert, scheint aber die offensichtlich olivgrün dominierte Bundesregierung nicht zu beeindrucken.

Der Rubel ist trotz der SWIFT-Blockade und trotz des Diebstahls russischer Devisenreserven in Höhe von 300 Milliarden US-Dollar zur härtesten Währung der Welt aufgestiegen, während Euro und Dollar ständig an Wert verlieren. Die russischen Einnahmen aus dem Verkauf von Öl, Gas und Kohle haben sich in den ersten zwei Monaten des Krieges auf 62 Milliarden Euro nahezu verdoppelt. Dass diese Verkäufe in Rubel durchgeführt werden, stützt die russische Währung erheblich. Wie schon bei der ersten Sanktionswelle im Jahr 2014 wird die russische Ökonomie zwar leiden, aber sehr schnell die erforderlichen Kapazitäten schaffen – oder neue Versorgungsstrukturen aufbauen –, mit denen die entstandenen Lücken geschlossen werden können. So ist Russland nach 2014 zum weltgrößten Weizenexporteur und zum weltgrößten Düngemittelproduzenten aufgestiegen. Russland ist darüber hinaus einer der bedeutendsten Produzenten von Mineralien und Industriemetallen. Bei manchen Metallen wie Palladium (37 Prozent des Weltmarktes) ist das Land schlicht unverzichtbar. Ein mit China verbündetes Russland ist schlicht zu groß und zu bedeutend, als dass es in den Ruin sanktioniert werden könnte.

Die erzwungen-freiwillige Abkopplung Europas, insbesondere des Exportweltmeisters Deutschlands, von den Wachstumsregionen der Erde läuft auf ein nostalgisches „Buy American“ hinaus. Nur leider wird hier außer Waffen, Fracking-Gas und Hollywood-Illusionen kaum noch etwas hergestellt. Es ist eine düstere Perspektive, die sich für eine ihrer wichtigsten Ressourcen und Märkte beraubten Wirtschaft auftut. Die Jubelmeldungen der dpa gleichen einem bittersüßen Schwanengesang einer verfallenden „westlichen“ Welt.

Zerbrochene Produktions- und Versorgungsketten, eine Inflationsrate im real zweistelligen Bereich, horrende Preise für Gas, Öl, Benzin und Diesel. Dazu Lebensmittelpreise und Mieten, die kaum noch zu bezahlen sind – und zwar nicht nur für das Viertel der Gesellschaft, das von Stütze lebt und/oder im prekären Niedriglohnsektor arbeitet. Die im Herbst 2019 begonnene kapitalistische Krise, verstärkt durch eine rassistisch unterlegte Anti-Russland-Politik, ist mit Macht zurück. „Schnauze halten!“ und „Hungern und frieren gegen Putin!“ soll offenbar zum dauerhaften Motto und zum Trost für die Arbeiterklasse Europas werden.

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"Traurige Rekorde", UZ vom 27. Mai 2022



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