Mit dem weißen Terror in München endeten die revolutionären Massenkämpfe des Frühjahrs 1919. Die Novemberrevolution wurde erstickt im Blut der Arbeiter, niedergeschlagen durch die SPD in enger Zusammenarbeit mit den reaktionärsten Teilen der Bourgeoisie.
Hunderte Arbeiter wurden von Freikorps ermordet oder von der Klassenjustiz umgebracht. Unter ihnen der Anarchist Gustav Landauer und die Kommunisten Rudolf Egelhofer und Eugen Leviné. Vor Gericht verteidigte Leviné die revolutionären Arbeiter und den Versuch, eine bessere Welt aufzubauen. Er wurde vor 100 Jahren, am 5. Juni 1919, im Gefängnis Stadelheim erschossen. Hier Auszüge aus seiner Verteidigungsrede, die er am 4. Juni vor dem Münchener Sondergericht hielt.
Der größte Gegensatz zwischen mir und der Staatsanwaltschaft besteht darin, dass wir alle politischen und alle sozialen Vorgänge, sowohl in Deutschland, als auch in der übrigen Welt von vollkommen entgegengesetzten Punkten auffassen. Der Staatsanwalt überschätzt die Macht und die Fähigkeit der Führer. Ihm scheint, die Würfel der Weltgeschichte rollen anders, je nachdem sie von der Hand ehrlicher oder ehrloser Führer geworfen werden. Aber die Führer kommen selbst aus den Massen hervor, wenn auch vielleicht aus anderem Milieu. Sie werden zu Führern, nicht weil sie über die Massen hervorragen, sondern nur dadurch, dass sie befähigt sind, das auszusprechen, was die Massen selbst instinktiv ersehnen und was sie aus Mangel an formaler Bildung nicht zum Ausdruck bringen können. Deshalb werden Sie zwar in Ihren bürgerlichen Kreisen eine große Anzahl von Menschen finden, die mir an Wissen überlegen sind, aber in einer Versammlung von Arbeitern wäre ich Sieger über sie geblieben, weil ich das ausgesprochen hätte, was die Massen fühlten und wollten. Es ist die Tragödie der Münchener Masse, dass sie noch zu wenig politisch geschult war. Sie verstand wohl, dass das ganze Proletariat als Gesamtheit auftreten müsse, um zu siegen; ihnen schien jedoch, dass diese Gesamtheit verschiedene Programme haben konnte, und dass es vollkommen genügt, wenn die Mehrheitssozialisten, die Unabhängigen und Kommunisten einen äußerlichen Pakt schließen. An der falsch verstandenen Parole der Einigkeit ist die Münchener Räterepublik gescheitert. Wenn das Proletariat einig ist in seinem Ziel und seinem Wollen, dann ist es unbesiegbar, nicht aber, wenn diese Einigkeit durch ganz formale äußere Verknüpfungen organisatorischer Art hergestellt ist.
Auch die wirtschaftliche Umwälzung kann sich nur als ein von der proletarischen Massenaktion getragener Prozess vollziehen. Die nackten Dekrete oberster Revolutionsbehörden über die Sozialisierung sind allein ein leeres Wort. Nur die Arbeiterschaft kann das Wort durch eigene Tat zum Fleische machen. In zähem Ringen mit dem Kapital, Brust an Brust in jedem Betriebe, durch unmittelbaren Druck der Massen, durch Streiks, durch Schaffung ihrer ständigen Vertretungsorgane können die Arbeiter die Kontrolle über die Produktion und schließlich die tatsächliche Leitung an sich bringen. Die Proletariermassen müssen lernen, aus toten Maschinen, die der Kapitalist in den Produktionsprozess stellt, zu denkenden, freien, selbstständigen Lenkern dieses Prozesses zu werden. Sie müssen das Verantwortlichkeitsgefühl wirkender Glieder der Allgemeinheit erwerben, die Alleinbesitzerin alles gesellschaftlichen Reichtums ist. Sie müssen Fleiß ohne Unternehmerpeitsche, höchste Leistung ohne kapitalistische Antreiber, Disziplin ohne Joch und Ordnung ohne Herrschaft entfalten. Höchster Idealismus im Interesse der Allgemeinheit, straffste Selbstdisziplin, wahrer Bürgersinn der Massen sind für die sozialistische Gesellschaft die moralische Grundlage, wie Stumpfsinn, Egoismus und Korruption die moralische Grundlage der kapitalistischen Gesellschaft sind.
Ich sagte Ihnen, dass die Diktatur des Proletariats nur eine Zwischenstufe ist, in der Zeit nach der Diktatur des Kapitals bis zu der Zeit, wo völlige Demokratie dadurch geschaffen wird, dass es nur eine Klasse der Arbeitenden gibt. Die Partei der Kommunisten ist überzeugt, dass dieses Programm sich sehr wohl ohne Gewalt durchsetzen ließe, wenn die verschwindende Minderheit der Besitzenden sich vor der geschichtlichen Notwendigkeit nicht verschließen würde. Der bewaffnete Kampf aber, der uns so sehr vorgeworfen wird, beginnt erst dann, wenn diese verschwindende Minderheit trotzdem für die Privilegien ihres Standes und ihrer Klasse sich mit bewaffneter Hand zur Wehr setzt. (…)
Wir Kommunisten sind alle Tote auf Urlaub, dessen bin ich mir bewusst. Ich weiß nicht, ob Sie mir meinen Urlaubschein noch verlängern werden, oder ob ich einrücken muss zu Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Ich sehe auf jeden Fall Ihrem Spruch mit Gefasstheit und mit einer inneren Heiterkeit entgegen.
Die Ereignisse sind nicht aufzuhalten. Die Staatsanwaltschaft glaubt, die Führer hätten die Massen aufgepeitscht. Wie die Führer die Fehler der Massen nicht hintertreiben konnten unter der Scheinräterepublik, so wird auch das Verschwinden des einen oder anderen Führers unter keinen Umständen die Bewegung hindern.
Und über kurz oder lang werden in diesem Raume andere Richter tagen und dann wird der wegen Hochverrat bestraft werden, der sich gegen die Diktatur des Proletariats vergangen hat. Fällen Sie das Urteil, wenn Sie es für richtig halten. Ich habe mich nur dagegen gewehrt, dass meine politische Agitation, der Name der Räterepublik, mit der ich mich verknüpft fühle, dass der gute Name der Münchener Arbeiter beschmutzt wird. Diese und ich mit ihnen zusammen, wir haben alles versucht, nach bestem Wissen und Gewissen unsere Pflicht zu tun gegen die Internationale, gegen die Kommunistische Weltrevolution!“