Statt dem Ukraine-Krieg diplomatisch zu beenden und die Wirtschaftsblockade gegen Syrien aufzuheben, setzt der Europäische Rat auf Begrenzung der Flüchtlingszahlen und schnellere Abschiebung

Totalscheitern bei Begrenzung von Migration

Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) haben sich auf ihrem Gipfel in Brüssel in der vergangenen Woche der Begrenzung von Migration verschrieben. „Die EU will in Zukunft alles tun, um Migranten so schnell wie möglich wieder abschieben zu können oder sie gleich von Europa fernzuhalten“, fasst die „Süddeutsche Zeitung“ die „Wende zur Unwillkommenskultur“ zusammen. Allein, klappen wird das nicht, im Gegenteil. So lässt die 14 Seiten lange und 56 Punkte umfassende Abschlusserklärung jegliche Überlegungen zu den beiden Hauptherkunftsländern von Flüchtlingen in der EU außen vor, konkret, wie die anhaltende Flucht Hunderttausender Menschen beendet werden kann, sei es vor wirtschaftlicher Not in Syrien infolge der EU-Sanktionen, sei es vor dem Krieg in der Ukraine, in dem die EU-Spitze jegliche diplomatische Friedensinitiative vermissen lässt und allein weitere Waffenlieferungen zur Verlängerung kennt. Stattdessen fokussieren die Brüsseler Spitzen auf schnellere Abschiebungen. „Der Europäische Rat ruft zu entschlossenem Handeln auf allen Ebenen auf, um die Rückkehr aus der Europäischen Union zu erleichtern, zu verstärken und zu beschleunigen, wobei alle einschlägigen Instrumente und Werkzeuge der EU-Politik, einschließlich Diplomatie, Entwicklung, Handel und Visa, eingesetzt werden sollen“, wird das blumig-nichtssagend umschrieben.

Polens Regierungschef Donald Tusk hatte kurz vor dem Gipfel angekündigt, das Asylrecht in seinem Land auszusetzen, Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat in Albanien mit medialem Pomp ein Lager eröffnet, in dem – unter italienischem Kommando, nach italienischem Recht – Asylverfahren für bestimmte Gruppen von Migranten abgewickelt werden sollen. Am Tag nach dem EU-Gipfel hat ein italienisches Gericht die ersten Menschenverbringungen dorthin revidiert.

Von den 484.000 Nicht-EU-Bürgern, die im vergangenen Jahr zum Verlassen der EU aufgefordert wurden, kehrten nur 20 Prozent in ihre Heimat zurück, rechnete die Nachrichtenagentur „Reuters“ zum Gipfel vor. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU), gegen die die Europäische Staatsanwaltschaft wegen intransparenter Impfstoff-Deals mit dem US-Pharmamulti Pfizer ermittelt, erklärte, die Kommission arbeite daran, diese Zahl zu „verbessern“ und werde bald ein entsprechendes Gesetz vorlegen. Zum Vergleich: Allein in den ersten sechs Monaten dieses Jahres sollen 400.000 Menschen die von der EU und NATO unterstützte Ukraine verlassen haben. Dazu kommt eine „Massenflucht von Kindern unter 18 Jahren ins Ausland“ seit vergangenem Monat. Wie der ukrainische Bildungsminister Oksen Lisowoj – der für ein Verbot der russischen Sprache auf den Pausenhöfen der Schulen mobil macht – gerade bei einer parlamentarischen Anhörung eingeräumt hat, sind etwa 300.000 Schüler der Abschlussklassen nicht zum seit September laufenden neuen Schuljahr erschienen. Vermutlich seien sie ins Ausland gegangen, solange sie das von ihrem Alter her noch könnten. Hintergrund: Die Regierung von Präsident Wladimir Selenski hat gerade ein Gesetz vorgelegt, dem zufolge sich bereits 17-Jährige bei den staatlichen Rekrutierungsstellen melden und als Wehrpflichtige registrieren müssen. Danach können sie nur noch mit Genehmigung das Land verlassen beziehungsweise illegal gegen Zahlung hoher Schmiergelder.

Die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten haben derweil auf dem Brüsseler Gipfel stur die Selenski-Formel für einen „gerechten Frieden“ bekräftigt. Die sieht Verhandlungen für einen Waffenstillstand und eine Friedenslösung erst vor, wenn alle russischen Truppen aus der gesamten Ukraine abgezogen sind, sprich: eine Verlängerung des Krieges bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag und damit weitere Flucht derjenigen auch in die EU, die sich nicht sinnlos verheizen lassen wollen.

Im Fall Syriens bekräftigte der Europäische Rat, „dass die Bedingungen für eine sichere, freiwillige und menschenwürdige Rückkehr der syrischen Flüchtlinge gemäß der Definition des UNHCR geschaffen werden müssen“ – um gleichzeitig nichts dafür zu tun, sprich: die zerstörerischen Wirtschaftssanktionen endlich aufzuheben. Dabei hat gerade erst der Papst-Gesandte Kardinal Mario Zenari vor völliger Erschöpfung der Bevölkerung nach 14 Jahren Konflikt gewarnt und auf die schwerwiegenden Auswirkungen der Blockade hingewiesen. „In Syrien tötet die Bombe der Armut die Hoffnung“, so der Apostolische Nuntius. Der Krieg hat 500.000 Menschen getötet, mehr als sieben Millionen sind Binnenvertriebene, mehr als fünf Millionen sind in andere Länder geflohen. Nach Angaben der Vereinten Nationen sind 16,7 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen; fast 13 Millionen leiden unter schwerer Ernährungsunsicherheit. „Ich habe so viel Zerstörung, Tod, amputierte Kinder, so viel Leid in den Jahren der heftigen Kämpfe gesehen. Jetzt ist die Bombe der Armut explodiert und lässt der Bevölkerung keine Hoffnung“, so Zenari laut „Vatican-News“. Der Kardinal bestätigt, dass die Sanktionen schwerwiegende Auswirkungen auf die Bevölkerung haben: „Während des Krieges gab es Licht, jetzt gibt es Stromausfälle und das Land ist in Dunkelheit gehüllt.“ Es fehlt an Medikamenten, Lebensmitteln, Alltagsgegenständen, die Banken investieren nicht, das Finanzwesen ist zum Erliegen gekommen, ebenso das Bildungswesen. Die Bevölkerung ist weiterhin auf der Flucht. Nach Angaben der UN verlassen jeden Tag etwa 500 Menschen Syrien. Das sind rund 180.000 im Jahr. Die jüngste Flucht Hunderttausender aus dem Libanon vor den Angriffen Israels in das vom EU-Wirtschaftskrieg verarmte Syrien werden die Zahlen absehbar steigen lassen. Mit den anhaltenden Waffenlieferungen an Israel wird der Exodus seitens der EU-Staaten mit befördert. Nur, problematisieren will es keiner.

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"Totalscheitern bei Begrenzung von Migration", UZ vom 25. Oktober 2024



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