Von Berlin und der EU befürwortete Sanktionen drohen Niger in eine Hungerkatastrophe zu treiben

Tödliche Sanktionen

Die Lage in Niger bleibt äußerst angespannt. Die Militärs haben ihre Macht in Niamey mittlerweile konsolidiert und am 8. August mit dem früheren Wirtschafts- und Finanzminister (2003 bis 2010) Ali Lamine Zeine einen zivilen Ministerpräsidenten ernannt, der nun eine aus Militärs und Zivilisten gebildete Übergangsregierung anführt. Die tatsächliche Macht liegt weiterhin beim Chef der Junta beziehungsweise des Conseil national pour la sauvegarde de la patrie (CNSP, Nationaler Rat zur Rettung des Vaterlandes), Brigadegeneral Abdourahamane Tchiani. Tchiani hat vor Kurzem angekündigt, eine Transformation des Staates und eine Rückkehr zur Demokratie binnen maximal drei Jahren zu organisieren. Die westafrikanische Regionalorganisation ECOWAS lehnt eine dreijährige Frist ab; sie fordert unverändert die sofortige Rückkehr der Militärs in die Kasernen und die unmittelbare Wiedereinsetzung des gestürzten Präsidenten Mohamed Bazoum. Sie sucht dies mit harten Wirtschaftssanktionen zu erzwingen und schließt einen Krieg zur Entmachtung der Putschisten in Niger nicht aus. Die Kriegsdrohung hat mittlerweile jedoch Rückschläge erlitten: Die Afrikanische Union (AU) unterstützt sie ausdrücklich nicht; in Bevölkerung und Opposition mehrerer ECOWAS-Staaten regt sich Widerstand.

Die ECOWAS-Pläne für eine Militärintervention in Niger sehen französische Militärhilfe vor  – zumindest beim Truppentransport und bei der Bereitstellung von Aufklärungsdaten.

Dabei spielen sich im Hintergrund offenkundig heftige innerwestliche Machtkämpfe ab. Während Frankreich zu erkennen gegeben hat, eine ECOWAS-Militärintervention zumindest zu unterstützen, dringen die USA offiziell auf eine diplomatische Lösung des Konflikts. Dass Washington sich in Niamey mit Verhandlungen über eine diplomatische Lösung von Paris absetzt, hat dort heftigen Unmut erregt; Erinnerungen an die Ausbootung Frankreichs in Australien beziehungsweise im Pazifik durch den AUKUS-Pakt wurden wach.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell erklärte wenige Tage nach dem Putsch, das europäische Staatenkartell unterstütze „alle Maßnahmen“ der ECOWAS. Das bezog sich auch auf die harten Wirtschaftssanktionen gegen Niger. Außenministerin Annalena Baerbock hat bestätigt, auch die Bundesregierung stärke der ECOWAS in puncto Sanktionen den Rücken. Mitte August teilte sie mit, auch die EU werde eigene „Sanktionen gegen die Putschisten auf den Weg bringen“; man stimme sich dabei, hieß es im Auswärtigen Amt, mit den Außenministerien Frankreichs und der USA sowie mit dem gestürzten nigrischen Außenminister Hassoumi Massaoudou ab.

Die ECOWAS-Sanktionen lösen mittlerweile Proteste von Hilfsorganisationen aus. Niger ist eines der ärmsten Länder der Welt; 19,8 Prozent aller Nigrer leiden an Unterernährung, 44,4 Prozent aller Kinder unter fünf Jahren weisen Wachstumsstörungen auf. Das UN-Kinderhilfswerk UNICEF protestierte bereits vor zwei Wochen, die ECOWAS-Sanktionen blockierten 50 seiner Container an der nigrischen Grenze, die dringend benötigte Medikamente, Impfstoffe, Spritzen und Material für Kühlketten enthielten. Inzwischen heißt es, rund 6.000 Tonnen an Lebensmitteln, die das UN-Welternährungsprogramm (WFP) liefern wolle, steckten ebenfalls sanktionsbedingt außerhalb von Niger fest. Wegen des wachsenden Mangels stiegen die Preise für Grundnahrungsmittel; so habe der Preis für Reis um 21 Prozent zugenommen. Schon jetzt hätten rund drei Millionen Nigrer Schwierigkeiten, sich eine Mahlzeit pro Tag zu sichern; die beginnende Nahrungsmittelkrise könne weitere sieben Millionen Menschen in dieselbe Notlage bringen. Der Leiter der „Action contre la faim“ (ACF, Aktion gegen den Hunger) in Niger, Gregor Robak-Werth, warnte wörtlich: „Das wird Leben kosten.“ Die Sanktionen werden, wie erwähnt, von Berlin und der EU ausdrücklich unterstützt.

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"Tödliche Sanktionen", UZ vom 8. September 2023



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