Ula Richters Arbeiten sind auch auf der Webseite www.ularichter.de zu sehen.
So oder so. Die Erde wird rot. Entweder lebenrot oder todrot“, dichtete einst Wolf Biermann. Im Gegensatz zu ihm hat Ula Richter, Jahrgang 1939, nicht die Seite gewechselt. Sie ergreift bis heute für die lebenrote Erde Partei. Auch und gerade, wenn sie sie wie in „Afghanische Hochzeit“ todrot tränkt. Ihr todroter Realismus konfrontiert uns mit der blutigen Realität der alternativlosen Barbarei.
Das Todrot der „afghanischen Hochzeit“ ist mehr als eine Farbe. Seine unheimliche Kälte ist nicht einfach die Kälte des Magentarots, das hier anstelle des warmen Karminrots den Grundton bildet. Das Rot dieses Bildes strahlt Todeskälte aus. Sie ist ein geradezu vampirhaftes Kontrastphänomen. Es speist sich aus der tödlichen Wirkung der Rottöne auf das menschliche Bildelement. Die Gliedmaßen der afghanischen Braut.
An sich sind sie völlig unversehrt dargestellt. In einem anderen Bildumfeld würden sie belebt wirken. In der „afghanischen Hochzeit“ führen sie den Tod vor Augen. Ihre lebensnahe Hautfarbe erscheint in der todroten Umgebung leichenblass. Zugleich verwischt die Lichtregie die Kontur zum bleichen kalt-grau grundierten Wüstensand. Die Farbgebung der „afghanischen Hochzeit“ macht die menschlichen Körperteile gnadenlos dem Erdboden gleich.
Perfektioniert wird die optische Tötung durch die Blickführung. Die „afghanische Hochzeit“ lässt sich nicht wie gewohnt von links nach rechts „lesen“. Könnten wir der aufsteigenden Linie des Arms bis zur Hand folgen, würde die Hand in unseren Augen gestisch zu „sprechen“ beginnen. Doch der geplatzte Granatapfel rechts unter ihr sprengt sich uns ins Auge. Die Hand gerät erst nach ihm und von ihm aus in unser Blickfeld. Die erst gegen ihre eigene Bewegungsrichtung erblickte Hand „verstummt“ augenblicklich. Ihre Erscheinung erstarrt zum gestenlosen Handzeichen des Todes.
Der Granatapfel sprengt nicht weniger als unsere anthropozentrische Sichtweise. In der versprengten Bildwelt der „afghanischen Hochzeit“ können wir den menschlichen Körper nicht mehr als Maß und Mitte der Dinge wahrnehmen. Seine entleibte Erscheinung fügt sich so nahtlos in die auf den Granatapfel zentrierte Spiralkomposition, dass seine unmenschliche Unscheinbarkeit auch auf den zweiten Blick nicht zu revidieren ist. Unser Ebenbild wird nicht nur optisch getötet, sondern auch ästhetisch bagatellisiert: zum bloßen Ding unter Dingen.
Wir sind konfrontiert mit einer Ordnung der Dinge, in der der menschliche Körper nur noch Nebensache ist. Im „afghanischen“ Hochzeits-Bild zieren Festgewand, Armreifen und Granatapfel nicht mehr die Braut, sondern umgekehrt: Die prächtigen Dinge schmücken sich ungeniert mit ihren Leichenteilen. Ein Genuss ist dieses bildschöne Schauspiel nicht. Seine Bildschönheit ist zu kalt, um uns kalt zu lassen. Unser Menschenauge übergeht die so „harmonisch“ ins Ding-Ensemble eingebettete Leiche nicht. Ihre ästhetische Unterstellung unter die Dinge geht als Entstellung unseres Ebenbilds ins Auge.
Das verdinglichte Menschenbild ist nicht l’art pour l’art. Es skandalisiert die widergespiegelte Realität. Die „versehentliche“ Vernichtung einer afghanischen Hochzeitsgesellschaft durch NATO-Bomber. Das 2013 vollendete Bild ist die offene Wunde ihres so genannten „Kollateralschadens“. Es präsentiert uns das vergangene Massaker in der Ferne, als ob es sich eben erst vor unseren Augen ereignet hätte.
Die Aufsicht stößt uns buchstäblich auf den Boden der Tat-Sachen. Wir scheinen keinen Meter mehr vom Tatort entfernt zu sein. Die gewohnte Fernseh-Distanz ist ent-fernt. Der Krieg erscheint nicht mehr als übersehbares Fernseh-Ereignis aus einer scheinbar anderen „islamischen Welt“. Wir können ihn uns nicht mehr vom Leib halten. Wir befinden uns mitten im Schlachtfeld des „Luftschläge“ genannten Bombenterrors. Jeder Blick auf die „afghanische Hochzeit“ straft die Fernsehpropaganda von der angeblich „pazifistischen Zurückhaltung des Westens“ Lügen.
Das Gemälde hält nicht nur die Erinnerung an das abgebildete Massaker wach. Wo es ausgestellt wird, weckt es Assoziationen an den aktuellen Kriegsalltag, der immer noch Afghanistan, aber auch schon weiten Teilen der Welt seinen todroten Stempel aufdrückt. Die Realität selbst scheint sich ihrem todroten Abbild immer mehr anzugleichen. Angesichts dieser ungeheuren sich realisierenden Aktualität des Bildes mutet sein ursprünglicher Aktualitätsbezug geradezu nostalgisch an. Der „war on terror“ war damals noch nicht so dramatisch eskaliert. Er schien noch nicht der imperialistische Welt- „Ordnungs“- Krieg zu sein, als den wir ihn heute begreifen müssen. Man konnte den Überfall auf Afghanistan noch für einen „Verteidigungsfall“ der NATO halten, für eine Reaktion auf die Anschläge des 11. Septembers 2001. Die angebliche „Verteidigung unserer Freiheit am Hindukusch“ wurde noch als „Friedensmission“ verharmlost, die den Sieg über ein versprengtes Häuflein abtrünniger CIA-Schützlinge sichern sollte.
Von all diesen Beschwichtigungen und Beschönigungen ist längst keine Rede mehr. Sie sind wie die nach dem Ende des kalten Kriegs versprochene „Friedensdividende“ nichts als Schall und Rauch des immer verheerender um sich greifenden Weltbrands.
Als sein sich unaufhörlich aktualisierender Widerschein ist die „afghanische Hochzeit“ die aussichtslose Aussicht auf den totalen Krieg. Die aussichtslose Ausschnitt-Ansicht lässt unser Auge wissen, dass es um sie herum nicht anders aussieht. Es könnte im imaginären Umfeld nur ebenso vergeblich nach Lebenszeichen Ausschau halten wie im sichtbaren Ausschnitt. Die Bildwelt des „afghanischen“ Stilllebens imaginiert so um sich eine unübersehbare „nature morte“, in der sich ebenfalls kein Leben mehr regt, in der nur noch die alles vernichtende Gewalt nachbebt. Wir blicken wie durch ein Fenster in den Abgrund der totalen Verwüstung. Die aussichtslose Bildwelt des Ausschnitts weitet sich zum trostlos todroten Weltbild.
Im Weltbild des todroten Realismus ist schon alles zu spät. Sein lebenroter Sinn befindet sich nicht in, sondern vor dem Bild. Wir finden ihn, wenn wir uns an die eigene Nase fassen. Wir leben noch. Wir können den dritten Weltkrieg zwar vielleicht schon nicht mehr verhindern, aber immer noch beenden. Vor unserer eigenen Haustür: Die Kommandozentralen des Bomben- und Drohnenterrors in unserer Nachbarschaft sind nicht unantastbar. Ohne Hoffnung ist Ula Richters aussichtslose Ansicht nicht. Sie hofft auf Betrachter, die aus ihrer Zuschauerrolle heraustreten und nicht wie der gewendete Biermann ihren Frieden mit dem Krieg machen.
Marktgängige Kunst ist es nicht, was Ula Richter schafft. Konkrete Aussagen, die auf das Gestrige im Heute verweisen und ein mögliches Morgen zeigen, die uns die Opfer vor Augen führen und die Täter benennen, haben in der Kunst-Warenwelt keine Nische.
Ula Richters Bilder wenden sich an alle, die herrschende Zustände als menschengemacht und damit veränderbar erkennen. „Die Schönheit der Welt und ihre außerordentliche Bedrohung sind das Spannungsfeld, das mich beim Malen treibt, es sichtbar zu machen ein immer neuer Versuch“, sagt sie. Ihre Bilder sind Anklage, Ermutigung und Plädoyer für Menschlichkeit.
Unsere Genossin, die Antifaschistin, Friedenskämpferin Ula Richter, wird am 2. September 80 Jahre alt. Wir gratulieren und danken für die Anstöße, die sie mit ihrer Kunst unserem Denken gegeben hat und weiter gibt.
Die Redaktion der UZ