Seit dem Jahr 2009 ist Andrej Hunko Mitglied des Deutschen Bundestages – und hat viel erlebt. Doch die in der vergangenen Woche beschlossene Grundgesetzänderung zur Freigabe der Kriegskredite stellt auch für ihn eine neue Qualität dar. UZ sprach mit ihm über das Verfahren, den Protest der BSW-Abgeordneten im Plenum und die Rolle der Linkspartei.
UZ: Am Dienstag der vergangenen Woche hat der Bundestag das Grundgesetz geändert. Von vielen Rednern wurde diese Sitzung aus unterschiedlichen Gründen als „historisch“ bezeichnet. Wie hast du den Tag wahrgenommen?
Andrej Hunko: Ich glaube schon, dass das eine historische Debatte und Entscheidung war – in vielerlei Hinsicht. Natürlich handelt es sich um einen historischen Militarisierungssprung, der hier eingeleitet wird, weil die Rüstungsausgaben oberhalb von 1 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) komplett von der Schuldenbremse ausgenommen werden. Dadurch ist jetzt praktisch eine unbegrenzte Aufrüstung möglich. Flankiert wurde das von Äußerungen wie dem Ausruf von Friedrich Merz: „Deutschland ist wieder da!“ Wenn man so etwas hört, kann es einem schon kalt den Rücken runterlaufen. Die Sitzung war aber auch historisch, weil sie einen Tiefpunkt in der Parlamentsgeschichte darstellt. Eine Regierung, die sich gerade einmal in Koalitionsverhandlungen befindet, hat sich eines schon abgewählten Parlamentes bedient, um eine Zweidrittelmehrheit für eine Grundgesetzänderung mit ganz weitreichenden Folgen sicherzustellen. Also um einen Beschluss zu fassen, für den es im jetzt gewählten Bundestag keine Mehrheit gibt. Historisch ist aber auch die Dimension. Wir reden, wenn wir die Zinsen mitberücksichtigen, von einer Summe von mehr als einer Billion Euro neuer Schulden. Da geht es auch nicht um ein „Sondervermögen“, wie das immer euphemistisch genannt wird, sondern klar um Kriegskredite. Deswegen haben wir auch die Parallelen zu 1914 gezogen.
UZ: Im Bundestag wurde auch über die Zulässigkeit der Sitzung diskutiert. Der Parlamentarische Geschäftsführer der CDU, Thorsten Frei, hat das Verfahren verteidigt. Man habe die Fristen sogar „übererfüllt“. Immerhin hätten im Vorfeld 16 Ausschüsse über die Grundgesetzänderung beraten. Wie ordnest du das ein?

Andrej Hunko: Das gehört zu diesem Tiefpunkt der Parlamentsgeschichte, von dem ich gesprochen habe. Zwischen dem Donnerstag der Vorwoche und dem Dienstag der Bundestagssitzung haben unter hohem Zeitdruck alle möglichen Ausschüsse getagt. Ich war im Auswärtigen Ausschuss und im Gesundheitsausschuss dabei. Das ist folgendermaßen gelaufen: Die Ausschüsse haben ihre Sitzungen begonnen und dann auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Die so anberaumten Sitzungen sollten fortgesetzt werden, wenn Änderungsanträge reinkommen. Der Gesundheitsausschuss hatte am Freitagmorgen um 8 Uhr angefangen. Uns wurde gesagt, dass gegen 16 Uhr mit Änderungsanträgen zu rechnen ist. Um dafür zu sorgen, dass das alles formal korrekt und formal legal abläuft, hat man die Sitzung dann noch einmal verschoben und am Sonntag um 16 Uhr fortgesetzt. Mit parlamentarischer Befassung hatte das nichts mehr zu tun. Da wurden lediglich Formalien eingehalten, um eine Klage zu verunmöglichen. Ich war erschüttert, wie das alles gelaufen ist.
UZ: Im Anschluss an die Rede von Sahra Wagenknecht habt ihr mit einer Aktion auf euch aufmerksam gemacht und Schilder hochgehalten, auf denen stand: „1914 wie 2025: NEIN zu Kriegskrediten!“ Was war die Intention dahinter, und wie kam das im restlichen Plenum an?
Andrej Hunko: Neben den sehr guten Reden von Jessica Tatti und Sahra Wagenknecht wollten wir unseren Protest in diesem historischen Moment auch sichtbar zum Ausdruck bringen. Es ging uns darum, ein bleibendes Bild zu erzeugen, das der Debatte und der Dimension der Entscheidung angemessen ist. Ich glaube, das ist uns auch ganz gut gelungen. Damit habe ich mir nach mehr als 15 Jahren im Bundestag auch meinen ersten Ordnungsruf eingehandelt. In der ersten Lesung am vorletzten Donnerstag hatte Jessica Tatti schon die Parallele zu 1914 gezogen und da kam es zu einer Riesenaufregung. Besonders die Sozialdemokraten werden nicht so gerne daran erinnert. Da gab es großes Geschrei und echte Unruhe im Saal – wir hatten also einen Punkt getroffen. Bei unserer Schilderaktion blieb es im Vergleich dazu einigermaßen ruhig.
UZ: Du hast Jessica Tattis Rede in der Geschäftsordnungsdebatte erwähnt. Sie hat sich an die Abgeordneten der Linkspartei gewandt und ihnen vorgeworfen, eine historische Chance vertan zu haben: „Wenn man diese Kriegskredite wirklich verhindern will, dann versucht man es, auch wenn die juristische Chance noch so klein ist.“
Andrej Hunko: Man muss über die Rolle der „Linken“ in diesem ganzen Prozess reden. Deren Abgeordnete haben in beiden Bundestagssitzungen gegen die Absetzung des Tagesordnungspunkts gestimmt, mit Hinweis darauf, dass der Antrag dafür von der AfD kam. Wir haben zugestimmt, weil es in der Sache richtig war. Gut, da kann man noch sagen, das ist egal, weil wir auch mit der „Linken“ keine Mehrheit für die Absetzung gehabt hätten.
Aber es gehört noch mehr dazu. Das Bundesverfassungsgericht hatte Klagen von AfD und „Linken“ abgelehnt, die sich gegen die Behandlung der Grundgesetzänderung im Bundestag gerichtet hatten. Im Urteil hatte das Gericht den Hinweis gegeben, dass sich der neue Bundestag konstituieren und damit eine Beschlussfassung im alten Bundestag verhindern könnte. Der Tenor an die Antragsteller war also: Macht es doch selbst. Die AfD hat daraufhin die sofortige Konstituierung beantragt. Dieses Vorgehen erschien mir schlüssig, zumal der Hinweis vom Verfassungsgericht kam. „Die Linke“ hat sich aber geweigert, das ebenfalls zu tun. Zunächst mit der Begründung, dass das ja von der AfD käme und dass man nichts gemeinsam machen würde. Dieses „gemeinsam“ ist in dem Fall aber extrem relativ, weil eine eigene E-Mail der „Linken“ gereicht hätte. Man hätte sich nicht mit der AfD zusammensetzen oder über einen gemeinsamen Antrag beraten müssen. Am Sonntag kam dann auf einmal eine neue Argumentation: Das sei juristisch unmöglich. Nun gibt es tausend Verfassungsjuristen, die unterschiedliche Einschätzungen haben. Gilt die Regel, dass ein Drittel der Abgeordneten nach Paragraf 39 des Grundgesetzes eine Sitzung einberufen kann, auch für die Konstituierung, oder müsste das auf einer anderen Grundlage stattfinden – und wenn ja, wie? Aber es zu versuchen, kostet doch nichts. AfD und „Linke“ hätten ein Drittel der Stimmen gehabt. Ich finde es erschütternd, dass es seitens der „Linken“ nicht einmal versucht wurde.
Und noch ein Punkt: Wir haben im Bundestag einen Antrag in die Debatte eingebracht, mit dem Titel „Nein zur Kriegstüchtigkeit, Ja zu Diplomatie und Abrüstung“. Im Kern haben wir dazu aufgerufen, jede noch so kleine Chance für Verhandlungen und einen Waffenstillstand zu nutzen und zu unterstützen. Sowohl die AfD als auch ein Großteil der „Linken“ haben diesen Antrag abgelehnt, sich also nicht einmal enthalten. Nur zwei Abgeordnete der „Linken“ haben mit uns zusammen für den Antrag gestimmt. Das ist etwas Besonderes, weil es in solchen offenen Abstimmungen nur sehr selten zu Abweichlern kommt. Da muss es also Diskussionen gegeben haben. Susanne Ferschl und Matthias Birkwald, die mit uns gestimmt haben, sind im nächsten Bundestag nicht mehr dabei. Dass aber die große Mehrheit der Gruppe einen Antrag komplett ablehnt, der nur auf Diplomatie und Abrüstung zielt, finde ich schon ein starkes Stück.
Am Freitag im Bundesrat war dann der Höhepunkt erreicht, als die Regierungen aus Bremen und Mecklenburg-Vorpommern für das Paket gestimmt haben. In beiden Fällen hat „Die Linke“ zugestimmt. Bei den Ländern mit BSW-Beteiligung war hingegen früh klar und eindeutig, dass es keine Zustimmung geben kann.
UZ: Der Antrag, den du angesprochen hast, entsprach weitestgehend den Forderungen der Friedensbewegung: keine Waffenlieferungen, Diplomatie, Abrüstung. Das war nicht weit entfernt von der Rede, die der Gruppenvorsitzende der „Linken“, Sören Pellmann, gehalten hatte. Daher war die Ablehnung einigermaßen überraschend. Hast du eine Begründung dafür gehört?
Andrej Hunko: Bei einer Enthaltung hätte man vielleicht noch denken können, dass sie mit einer Formulierung unglücklich sind. Die Nein-Stimmen waren schon krass. Eine offizielle Begründung gab es nicht. Übrigens auch nicht von der AfD, die ja vordergründig oft von Diplomatie spricht. Im Nachgang habe ich gehört, dass sich „Die Linke“ vor allem an dem Begriff „Stellvertreterkrieg“ gestört hat. Es ist schon seit Jahren so, dass in der „Linken“ die herrschenden Narrative übernommen werden. Anstatt die Erzählungen von NATO und Regierung zu hinterfragen, hat man sich darin eingerichtet, auf Grundlage der gleichen Narrative für eine etwas friedlichere oder etwas sozialere Politik einzustehen.
In dem Antrag standen Forderungen, die in der Friedensbewegung eigentlich Konsens sind. Klar gibt es Debatten, zum Beispiel darüber, wie man Donald Trump beurteilt. In unseren Forderungen ging es darum, jedwede Friedensbemühungen für eine Beendigung des Ukraine-Krieges zu unterstützen und Russland ein Gesprächs-angebot über gemeinsame Abrüstungsanstrengungen zu unterbreiten. Aktuell erleben wir diese Versuche des US-Präsidenten, zu Friedensverhandlungen zu kommen. Das ist alles nicht hinreichend und auch nichts, worauf ich mein volles Vertrauen setzen würde. Aber ich finde schon, dass man alles, was in diese Richtung geht, unterstützen sollte. Ich vermute, das ist ein weiterer Hintergrund der Ablehnung: Man sagt, das geht nicht, weil Donald Trump böse ist. Ja, diese Einschätzung kann ich auch nachvollziehen. Aber so sollte man nicht Außenpolitik machen. Mit Ronald Reagan, der auch eine Hassfigur für Linke und die Friedensbewegung der 80er Jahre war, wurden damals viele Abrüstungsverträge geschlossen. Solche Überlegungen scheinen in einer moralisierend geprägten Linkspartei gar keine Rolle mehr zu spielen.