Tiefgreifende Umgestaltungen durch „Industrie 4.0“

Bernd Wagner, Freiburg im Gespräch mit Uwe Fritsch

Bernd Wagner: Industrie 4.0 wird auch als „Vierte Industrielle Revolution“ bezeichnet. Was sind die Merkmale dieser Umgestaltung, die den Begriff „Revolution“ begründen können?

Uwe Fritsch: Zur Erinnerung: Die erste industrielle Revolution war die Einführung mechanischer Produktionsanlagen mit Hilfe von Wasser- und Dampfkraft; die zweite war die Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mit Hilfe von elektrischer Energie; die dritte war gekennzeichnet durch den Einsatz von Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion.

Einschneidende technische Entwicklungen charakterisieren die vorangegangenen industriellen Revolutionen. Insofern ist es berechtigt, bei Industrie 4.0 von einer vierten industriellen Revolution zu sprechen, die einen ebenso gravierenden Grad der Komplexität darstellt wie die vorangegangenen. Diese neue Stufe wird in fernerer Zukunft etwa mit „Vernetzung aller Lebensbereiche durch umfassende Digitalisierung“ beschrieben werden.

Bernd Wagner: Werden sich derart tiefgreifende Veränderungen nur auf den Produktionsprozess auswirken oder muss man auch mit ähnlich einschneidenden Veränderungen von Abläufen und damit Arbeitsbedingungen im Dienstleistungsbereich rechnen?

Uwe Fritsch: Ja, muss man. Dafür sind zahlreiche Beispiele denkbar bzw. bereits in der Entwicklung. Hier nur einige Stichworte zu Entwicklungen, die bereits heute möglich sind, aber nur die ersten Schritte der Realisierung von Industrie 4.0 darstellen:

Produktion: Nur noch auf Auftrag, nicht auf Lager.

Ärzte: Roboter übernehmen Diagnosen.

Zahntechniker: 3-D-Drucker erstellen Zahnersatz.

Logistik: Reduzierung der Lagerhaltung, Beschleunigung der Warenströme durch Vernetzung mit Verkehrsdaten.

Ein-/Verkauf: Automatisierung von Bestellvorgängen, z. B. Internetbestellungen oder der Kühlschrank erkennt selber, was fehlt, und löst Bestellungen aus.

Bernd Wagner: In einem Großkonzern wie VW sind die Betriebsräte schon seit langem mit den Auswirkungen der Internationalisierung des Konzerns und seiner Geschäftspolitik konfrontiert. Was wird sich Deiner Meinung nach mit Industrie 4.0 darüber hinaus ändern?

Uwe Fritsch: Durch die Vernetzung sind weltweit Zulieferer angeschlossen. Es wird nur nach Bedarf produziert, ebenso die Ersatzteile. Die Informationsübermittlung löst im Produktionsbetrieb die Fertigung aus bis zur Anlieferung und Bezahlung.

Der Druck auf festgelegte Arbeitszeiten wird dadurch zunehmen, ebenso der Druck auf die Anzahl der Arbeitsplätze, auch der qualifizierten Arbeitsplätze. Eine weitere Differenzierung der Belegschaft in „Kern“- und „Rand“­belegschaften“ ist möglich.

Bernd Wagner: Es ist heute schon schwer, bei international tätigen Konzernen Strukturen, Vernetzungen und Eigentumsverhältnisse zu erkennen. Der „Gegner“ im Klassenkampf wird damit immer anonymer und ist bei Großbetrieben nur noch selten einem bestimmten Land zuzuordnen. Wird mit Industrie 4.0 der bestimmende Einfluss des Finanzkapitals und der globalen Investmentfonds weiter wachsen?

Uwe Fritsch: Die gegenseitige Abhängigkeit der Unternehmen wird zunehmen, auch weil ein Unternehmen alleine nicht mehr die immensen Investitionen für neue Techniken/Technologien tragen kann. So haben sich bereits in der Automobilindustrie neue Formen der Zusammenarbeit zwischen Firmen entwickelt, z. B. zum Thema „automatisiertes Fahren“ von BMW, Audi und Daimler und zum Thema „Elektromobilität“ bei der geplanten Produktion von Zellen in der Bundesrepublik oder Europa.

Bernd Wagner: Der „Mangel“ an konkret benennbaren Personen als Vertreter der Kapitalinteressen stellt neue Anforderungen an Betriebsräte und Gewerkschaften, um Belegschaften für Abwehr- oder Durchsetzungskämpfe zu motivieren. Fördert die wachsende Undurchsichtigkeit von Entscheidungsstrukturen und ihren Hintergründen nicht die Haltung, man könne ja doch nichts ändern?

Uwe Fritsch: Diese Undurchsichtigkeit erschwert den Gegnerbezug schon heute. Die Vorstände treten als Unternehmensvertreter auf, haben die Verfügungsgewalt, aber nicht das Eigentum an den Produktionsmitteln.

Bei aktuellen Zukunftsdiskussionen treten weitere Unsicherheiten zutage. 48 Prozent haben Angst vor dem, was mit Industrie 4.0 auf sie zukommt. Diese Ängste müssen wir berücksichtigen.

Es muss zum heutigen Zeitpunkt aber klar gesagt werden, dass sich die Wirkung von Industrie 4.0 nur so schnell entfalten wird, wie die Vernetzung voranschreitet. Diese Vernetzung aller Bereiche ist jetzt in weiten Teilen noch Zukunftsmusik.

Aber: Wir müssen trotzdem jetzt anfangen, uns damit zu beschäftigen, da ein enormer Rationalisierungsschub zu erwarten ist. Die Produktivkräfteentwicklung macht es den Unternehmen aktuell möglich, zu neuen Produktionsweisen zu kommen, die u. a. durch die Individualisierung von Produkten und die Vereinzelung, d. h. der Beschäftigten, gekennzeichnet sind.

Bernd Wagner: Welche Aufgaben ergeben sich für Kommunistinnen und Kommunisten aus der global wirksamen Umgestaltung von Produktion und Handel infolge von Industrie 4.0?

Uwe Fritsch: Wir müssen jetzt in die Gestaltung eingreifen, uns aktiv einmischen in die Entwicklung, Arbeits- und Datenschutzrechte verteidigen bzw. erweitern. Dabei spielen die betrieblichen Vertrauensleute eine wesentliche Rolle. Deren Position muss unterstützt und gestärkt werden. Und vor allem müssen die Vertrauensleute in die Gestaltungsprozesse einbezogen werden. Wichtige Grundlage für unser Eingreifen sind gesetzliche Mitbestimmungsrechte, besonders in allen öffentlichen Betrieben und Unternehmen mit staatlicher Beteiligung (ähnlich dem VW-Gesetz).

Genauso wichtig wird die Verteidigung und der Ausbau allgemeiner demokratischer Rechte. Entscheidend wird sein, über die Gewerkschaften hinaus weitere gesellschaftliche Gestaltungskräfte zu mobilisieren und zu bündeln.

Bernd Wagner: Welche Kräfte siehst Du, die diese Entwicklung im Sinne der Arbeiterklasse beeinflussen können? Welche Anforderungen stellen sich Kommunistinnen und Kommunisten für die Förderung einer Bündnispolitik, die natürliche und potentielle Bündnispartner gewinnen hilft?

Uwe Fritsch: Die durch Industrie 4.0 zu erwartenden Änderungen umfassen das persönliche Leben, alle Lebensbereiche. Daraus ergeben sich natürliche Bündnispartner in allen gesellschaftlichen Bereichen. In den Betrieben geht es nicht nur um „Gute Arbeit“, sondern um ein „Gutes Leben“ insgesamt. Hier ist ein Ansatzpunkt für Diskussionen um gesellschaftliche Veränderungen. Eine Frage wird sein, passen sich die Lebensbedingungen, die Dauer der Arbeitszeit den Lebensbedürfnissen der Menschen an oder entscheidet der Maximalprofit darüber. Diese Frage nicht untergehen zu lassen ist die Aufgabe von Kommunistinnen und Kommunisten ebenso wie das Anregen zum Nachdenken über alternative Zukunftskonzepte, die wir Sozialismus nennen.

Bernd Wagner: Marx sagte, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse dann umgestoßen werden können, wenn sie zum Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte werden. Die Kunst marxistischer Analysen ist es, diesen Wendepunkt zu erkennen. Deutet Deiner Meinung nach die Umsetzung von Industrie 4.0 auf einen solchen Wendepunkt hin, oder zeigt dieses Konzept uns, dass der Kapitalismus noch beachtliche Möglichkeiten zur Entwicklung der Produktivkräfte zu haben scheint?

Uwe Fritsch: Nikolai Dmitrijewitsch Kondratjew z. B. hat herausgefunden, dass der Kapitalismus in langen Zyklen es bisher immer wieder geschafft hat, sich zu regenerieren. Die technische Entwicklung schafft zwar die ökonomischen Voraussetzungen für ein besseres Leben, macht durch die automatische Steuerung auch das angebliche Know How des Kapitals überflüssig, aber automatisch wird sich dieses Gesellschaftssystem nicht überleben. Darum müssen wir die anstehenden Fragen aufgreifen und im Sinne der Arbeiterklasse weiterentwickeln. Die Widersprüche zwischen Produktivkraftentwicklung, Produktionsverhältnissen, wissenschaftlich-technischer Revolution und Arbeitsbedingungen geben uns die Möglichkeiten, auf die Gesetzmäßigkeiten im Kapitalismus hinzuweisen und die Schritte zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise gemeinsam zu beschreiben und dann uns auf den Weg zu machen!

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"Tiefgreifende Umgestaltungen durch „Industrie 4.0“", UZ vom 18. September 2015



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