Nakhon Si Thammarat ist eine unspektakuläre, von Touristen kaum besuchte Provinzhauptstadt in Thailands tiefem Süden. In einem ruhigen Vorort der Stadt fuhr plötzlich ein großer LKW vor, vollbeladen mit Müll, auf dem eine Gruppe junger Männer saß. In wenigen Minuten ist die stinkende Last entladen. Der LKW fährt leer ab, und – holt die nächste Ladung Müll. Inzwischen sind einige Bewohner des Viertels vor ihre Häuser getreten und beobachten stumm und traurig, wie nur wenige Meter von ihnen entfernt eine Müllkippe entsteht. Wer ließ den Abfall vor ihrer Haustür entsorgen? Sie kannten den Auftraggeber: Es war ein örtlich bekannter einflussreicher Landbesitzer. Könnten nicht rechtliche Schritte unternommen werden? Was für eine naive Vorstellung, heißt es leise aus der Gruppe der Bewohner. Man solle sich bitte an die jungen Männer erinnern, die im Auftrage des Landlords den Müll entladen hatten, an ihre Arbeitswerkzeuge, Eisenstangen und Messer. Ein anscheinend randständiges Ereignis, wie es sich vor Kurzem in Nakhon Si Thammarat ereignet hat, kann manchmal emblematisch auf die Misere eines ganzen Landes hinweisen.
Einer der Anwohner, ein betagter Rentner, wendet sich mit einem resignierten Lächeln wieder seiner Zeitung zu. Die bringt als Aufmacher auf der ersten Seite das großformatige Foto eines Generals, wie er mit angespannter Miene in der Gruppe Gymnastik treibt. Es handelt sich um General Prayut Chan-o-cha, selbsternannter Premierminister und nunmehr auch erster Vorturner der Nation.
Thailands Militär hatte im Mai 2014 die letzte gewählte Regierung unter Ministerpräsidentin Yingluck Shinawatra abgesetzt. Auf Anordnung des Generals haben fortan alle Regierungsangestellten jeden Mittwochnachmittag zu turnen und somit Vorbild zu sein für das restliche Volk, damit das sich mehr bewege. Während der General von der WHO ein dickes Lob für seine Turnübung bekam, wies die Weltbank auf die katastrophale Luftverschmutzung in Bangkok und in den anderen großen Städten Thailands hin. Jedes Jahr sterben dort nach jüngsten Studien etwa 50 000 Menschen an Krankheiten, die in Zusammenhang mit der Feinstaubbelastung und den Auspuffgasen von Millionen Autos stehen. 15 Millionen Thais leiden an kardiovaskulären Krankheiten, an zu hohem Blutdruck und erlitten Schlaganfälle. Allein in Bangkok verursacht der permanente Verkehrsstau Kosten von rund 6 Prozent des jährlichen Bruttosozialprodukts.
Während in Peking wenigstens ein amtlicher Smog-Alarm-Plan für die Regelung der Verkehrsdichte, für Krankenhäuser und Schulen existiert, können die Bewohner Bangkoks die Messergebnisse für die Luftqualität ihrer Stadt zwar aus dem Internet erfahren, dann sind sie sich aber selbst überlassen.
„Thailand 4.0“ nannte die Militärregierung ihren kürzlich vorgestellten 20-Jahres-Plan für die wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung des Landes. Eine umfassende parlamentarische Diskussion, öffentliche Anhörungen oder ein Referendum sind dafür nicht vorgesehen. Wann kann das Volk wieder wählen? Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. In einem zukünftigen Parlament werden nach dem Willen der Militärs und der mit ihnen verbündeten Eliten auch Abgeordnete sitzen, die nicht gewählt wurden, sondern ernannt. So kann man unliebsame Wahlüberraschungen ausschließen.
Politische Parteien können nach dem neuen Parteiengesetz verboten werden, falls sie „nicht konstruktiv und mit friedlichen Mitteln an der Lösung gesellschaftlicher Probleme mitarbeiten“. Im Mittelpunkt der wirtschaftspolitischen Vorstellungen stehen die Autoindustrie, die biochemische und biotechnologische Industrie, die Elektronik-Branche, das Agro-Business und der Tourismus, einschließlich Gesundheitstourismus. Thailand soll demnächst Industrie-Roboter fertigen, die digitale Ökonomie weiterentwickeln und zu einem Logistik-Zentrum werden. Wer in diese Wirtschaftszweige investiert, ist herzlich eingeladen. Thailands Militär will für entsprechende Rahmenbedingungen sorgen, z. B. durch staatliche Investitionen in neue Straßen und Eisenbahnlinien.
Insgesamt ist „Thailand 4.0“, wie sogar die konservative „Bangkok Post“ zugeben muss, unter völliger Vernachlässigung der kleinbäuerlichen Wirtschaft allein zentriert auf die Industrie, ausgerichtet auf Großinvestoren, auf die urbanen Zentren, auf niedrige Löhne und hohe Profite. „Thailand 4.0“ bedeutet, dass das Land weiterhin weltweit zu den Ländern mit besonders großem Einkommensunterschied gehören wird. So gab die Credit Suisse Group in ihrem letzten Global Wealth Report an, dass in Thailand der reichste Ein-Prozent-Teil der Bevölkerung 58 Prozent des nationalen Reichtums besitzt.
Die Umweltprobleme werden weiter auf die Bevölkerung abgewälzt. So gibt es für die Millionenmetropole Bangkok immer noch kein schlüssiges Projekt für Fußgänger. Die Müllberge wachsen überall im Land. In der Provinz Nakhon Si Thammarat lagern 1,2 Millionen Tonnen Industrie- und Haushaltsmüll, in der touristischen Hochburg Phuket sollen es 900 000 Tonnen sein. Das sind die offiziellen Zahlen für nur zwei der insgesamt 77 Provinzen Thailands. Wie viel Müll zwischen Häusern, am Straßenrand oder auf illegalen Deponien liegt oder ins Meer gekippt wurde, ist unbekannt. Es gibt keine Programme für Müll-Managements, für Recycling und Müllvermeidung, keine umweltgerechte Müllverbrennung.
Besorgniserregend ist die Situation in der Landwirtschaft. Das zuständige Ministerium hat ausgewiesen, dass Thailand in den letzten Jahren durchschnittlich 160000 Tonnen Pestizide und Herbizide eingeführt hat. Damit ist das Land im Weltmaßstab der fünftgrößte Importeur von Agrikulturchemie, belegt aber nach landwirtschaftlicher Nutzfläche den 48. Platz in der Welt. Die Resultate der eingesetzten Pestizide und Herbizide – viele von ihnen sind hochtoxisch und anderswo in der Welt längst verboten: Überdurchschnittlich viele Krebserkrankungen der Landbevölkerung, vergiftete Wasserreservoire und biologisch „tote“ Flüsse.
Auch die Produktion von 250 000 Tonnen Garnelen im vergangenen Jahr in riesigen meeresnahen Shrimps-Farmen geht nicht ohne den massiven Einsatz von Chemie. Der größte Teil der Garnelen wird von Arbeitsmigrantinnen aus Myanmar in Großkühlhäusern aufbereitet, um dann von den Agrarkonzernen als „frozen seafood“ in die USA verkauft zu werden. Wie schön müssen die Mangrovenwälder mit ihren vielen Tieren am Golf von Thailand noch vor einigen Jahren ausgesehen haben, bevor Bagger und Bulldozer aus dieser einmaligen Landschaft ein Patchwork von Shrimps-Farmen machten.
Die Militärregierung hat bis auf Weiteres politische Aktivitäten von Gruppen verboten. Trotzdem gibt es auch jetzt noch mutige Menschen in Thailand, die sich im Kampf für den Erhalt der Umwelt zusammenfinden. So soll in der südlichen Provinz Krabi ein Kohlekraftwerk mit zugehörigem Hafen gebaut werden. Die Menschen vor Ort befürchten eine rasante Verschlechterung der Luft und die Vernichtung des Mangrovenwaldes an ihrem Küstenabschnitt. Sie demonstrieren gegen das Bauvorhaben und scheuen sich nicht, ihren Protest öffentlichkeitswirksam bis nach Bangkok zu tragen.
Widerstand gibt es landesweit gegen das neue Bergbaugesetz, das Investoren nun schneller als in der Vergangenheit erlauben wird, eine Konzession zur Ausbeutung von Bodenschätzen zu bekommen, ohne dass vorher gründlich die Umweltsituation und die lokalen Interessen berücksichtigt werden müssen. Wir werden sehen, wann sich in Thailand der Kampf für die Umwelt mit dem Kampf für Demokratie und soziale Gerechtigkeit verbinden wird.