Es war ein Wunder, dass an diesem Tag kein Krieg ausbrach und die Radwan-Truppe nicht einmarschierte.“ Das sagte der israelische Generalmajor der Reserve Yitzhak Brick Ende November vergangenen Jahres gegenüber israelischen Medien. Die Schätzungen zufolge 2.500 Mann starke Eliteeinheit der Hisbollah („Partei Gottes“) habe das Potenzial, Tiberias und Haifa einzunehmen, da es an der Nordfront keine wirksame Verteidigung gebe. Die Radwan-Einheit habe – so der Offizier, der schon seit Jahren vor exakt dem Szenario warnt, das sich am 7. Oktober abspielte, als Kämpfer der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen in Gebiete im südlichen Israel eindrangen – auch die gesamte israelische Infrastruktur ins Visier nehmen können: „Zu diesem Zeitpunkt hätte Israel aufgehört zu existieren.“ Damit beschrieb Brick die militärischen Kapazitäten der Hisbollah, vor allem aber die von ihm diagnostizierte Schwäche der israelischen Armee. Seine implizite Prognose, die Hisbollah würde eine solche Offensive starten, ohne direkt angegriffen worden zu sein, ist hingegen höchst fragwürdig. Denn in deren Erwägung spielen unterschiedliche Dimensionen eine Rolle – darunter prominent die Frage, welche Schritte zu unterstützen die tief gespaltene libanesische Gesellschaft bereit ist.
Gut bewaffnet
Fraglos ist die Hisbollah die für Israel gefährlichste sich in unmittelbarer regionaler Nähe befindliche Kraft. Laut Schätzungen verfügt sie über 150.000 Raketen und Flugkörper, viele davon mit hoher Reichweite, so dass sie heute jeden Ort in Israel erreichen könnten. Schon im Jahr 2018 konstatierte das Center for Strategic and International Studies in Washington, die Hisbollah sei der am stärksten bewaffnete nicht staatliche Akteur der Welt. Ihre Waffen baut sie teilweise selbst, wird aber darüber hinaus insbesondere aus dem Iran beliefert. Die israelische Armee und das Verteidigungsministerium gehen davon aus, dass die Hisbollah im Falle eines Krieges mit Israel in den ersten Tagen mehrere tausend Raketen pro Tag abfeuern könnte. Seit dem letzten Waffengang im Jahr 2006 hat sie nicht nur ihr Arsenal erheblich aufgestockt, sondern zudem viele Raketen mit Lenksystemen ausgestattet. Diese können jetzt gezielt auf strategische Ziele – etwa militärische Einrichtungen oder Kraftwerke – gesteuert werden. Neben Flugabwehrraketen befinden sich auch etwa 2.000 Drohnen im Besitz der Hisbollah. Schon 2006 hatte sie mit ihren in Russland entwickelten Kornet-Raketen israelischen Panzern schwere Schäden zugefügt. Überdies gilt ihr Tunnelsystem als weit größer und ausgefeilter als das der Hamas im Gazastreifen und ihre Kämpfer haben ihre Fähigkeiten im Einsatz an der Seite der syrischen Regierung erheblich ausgebaut.
Auch deshalb wird das Narrativ, bei der Hisbollah handle es sich um eine mit Al Kaida oder dem „Islamischen Staat“ gleichzusetzende Terrororganisation, gerne bedient. Ihr Name – „Partei Gottes“ – wird dankbar herangezogen, um ein Bild religiöser Fanatiker zu zeichnen, die zum Kulturkampf und zu wahllosen Gemetzeln angetreten seien. Dabei wird ein Blick auf die Gründungsgeschichte der Hisbollah, die ein umfassendes soziales Netzwerk unterhält, das von Schulen, Sportanlagen und Apotheken bis hin zu Krankenhäusern reicht und keinesfalls nur der schiitischen Religionsgemeinschaft zugutekommt, genauso vermieden wie eine Analyse ihres ideologischen Gefüges. Ihre Entwicklung von einer unter dem Eindruck der Islamischen Revolution im Iran entstandenen Kraft zu einer fest im libanesischen politischen System verankerten Partei wird unterschlagen. Längst ist bei der Hisbollah die Einsicht gereift, dass die Gründung eines Islamischen Staates nach iranischem Vorbild im multiethnischen und multikonfessionellen Libanon kaum eine Option sein kann. Ihr Generalsekretär Hassan Nasrallah sagte schon 1996, Bedingung für die Einführung eines islamischen Systems sei die – für den Libanon völlig utopische – Zustimmung von mindestens 90 Prozent der Bevölkerung.
Ziel: Widerstand
Nichts geändert hat sich hingegen am Gründungsziel der Hisbollah. Ihre Anfänge reichen ins Jahr 1982 zurück, als Israel gerade zum zweiten Mal in den Libanon eingedrungen war – diesmal sogar bis in die Hauptstadt Beirut. Zunächst im losen Verbund sowohl säkularer als auch islamischer Gruppen wurde Widerstand gegen die Besatzungsmacht organisiert, zunächst noch ohne eine erkennbare oder gar gefestigte gemeinsame Strategie. Mittels eines Zermürbungskriegs, zu dem militärische Aktionen, aber zunehmend auch die Entführung israelischer Soldaten gehörten, wollte man die gegnerische Armee aus dem Land vertreiben. Unterstützt und trainiert wurden die Hisbollah-Kämpfer in der Bekaa-Ebene von etwa 1.500 mit dem Einverständnis Syriens – das seit 1976 Militär im Libanon stationiert hatte – eingereisten iranischen Revolutionsgardisten. Die entstehende Hisbollah porträtierte sich selbst von Anbeginn an als defensive Kraft, die auf das „aggressive“ und „unberechenbare“ Agieren Israels reagiere. Die Verantwortung für ihr angelastete, aber nicht bewiesene Anschläge im Ausland – so etwa in Argentinien, Paris oder Bulgarien – weist sie von sich. Auch hat sie die ihr zugeschriebene Urheberschaft für den Angriff auf als „Multinationale Streitkräfte“ im Libanon stationierte französische und US-amerikanische Soldaten im Jahr 1983 nie bestätigt. Dabei waren fast 300 Soldaten ums Leben gekommen, darunter 241 US-Marines. Die „Multinationalen Streitkräfte“ wurden daraufhin aus dem Libanon abgezogen.
Aus dem zwischen 1975 und 1990 tobenden „Bürgerkrieg“, bei dem es sich mindestens auch um einen Stellvertreterkrieg handelte, hielt sich die Hisbollah heraus – mit Ausnahme des in den späten 1980er Jahren im Südlibanon und in Beirut ausgetragenen „Bruderkriegs“ mit der ebenfalls schiitischen Amal-Bewegung, der viele Hisbollah-Kämpfer selbst einmal angehört hatten. Diese Episode gilt als „dunkles Kapitel“ in der Geschichte. Nach Darstellung der Hisbollah sei sie in die bewaffneten Auseinandersetzungen gegen ihren Willen hineingezogen worden. Heute kooperieren beide Organisationen eng miteinander und treten sogar mit gemeinsamen Wahllisten an. 2006 schlossen sie zudem ein Bündnis mit der maronitischen Freien Patriotischen Bewegung des späteren Präsidenten Michel Aoun sowie mit mehreren kleineren Parteien, darunter die ebenfalls christliche Marada-Partei.
Selbstverständnis
Das Agieren der Hisbollah sowie ihre Selbstdarstellung sind ohne das kollektive libanesische Trauma des 15-jährigen „Bürgerkriegs“ nicht zu verstehen. Zwar spielen ihre gesamtislamische und ihre schiitische Identität bis heute eine entscheidende Rolle in ihrem Diskurs, im Vergleich zu den Gründungsjahren hat aber ihr Selbstverständnis als libanesische Bewegung erheblich an Bedeutung gewonnen. Bei jeder erdenklichen Gelegenheit betonen ihre Vertreter, ein neuerliches innerlibanesisches Töten müsse unter allen Umständen verhindert werden und keine Gruppe könne den anderen ihren Willen und ihre Herrschaft aufzwingen. Diesem Tenor folgte bereits der „Offene Brief“ der Hisbollah, mit dem sie im Jahr 1985 erstmals die politische Bühne betrat. Mit dem 2009 erschienenen „Politischen Manifest“ aber, das fortan an die Stelle des „Offenen Briefs“ treten sollte, wurde die Wandlung von einer vorrangig islamisch definierten Widerstandsgruppe hin zu einer libanesischen politischen Partei, die bereits seit dem Jahr 1992 im Parlament vertreten ist und sich 2005 erstmals an einer Regierung beteiligte, auch schriftlich festgehalten. Eine libanesische Interessen ins Zentrum rückende Sprache trat zunehmend in den Vordergrund.
Weiter deutlich artikuliert wurde allerdings die Feindschaft gegenüber dem US-Imperialismus und Israel. Verhandlungen und Entgegenkommen hätten Israel nur stärker und „kriegslüsterner“ gemacht. Eine Abgabe ihrer Waffen komme für die Hisbollah nicht infrage, denn dann stehe das Land ohne Verteidigung da. Die Hisbollah war die einzige Kraft, die auch nach dem Abkommen von Taif aus dem Jahr 1989, das den „Bürgerkrieg“ formal beendete und in dem alle an diesem beteiligten Milizen zur Abgabe ihrer Waffen verpflichtet wurden, die ihrigen behalten durfte.
Wachsende Bedeutung
Der einseitige Abzug aller israelischen Truppen aus dem Südlibanon im Mai 2000 steigerte das Prestige der Hisbollah immens. Dass Israel die Schebaa-Farmen – einen kleinen Landstrich mit 18 verlassenen Höfen, den die UNO zwar Syrien zuordnet, den aber neben Damaskus auch Beirut als libanesisches Staatsgebiet betrachtet – weiter besetzt hält, gilt ihren Unterstützern seither als Legitimation, die Waffen zu behalten. Hinzu kommt die Schwäche der libanesischen Armee, zu der die Hisbollah zwar grundsätzlich gute Beziehungen unterhält, die aber in einem erneuten Krieg Israel kaum standhalten könnte. Dies zeigte sich unter anderem im Juli-Krieg 2006, als sie der israelischen Armee, die in Reaktion auf die Entführung zweier Soldaten durch die Hisbollah in den Libanon eindrang, weitestgehend tatenlos gegenüberstand.
Das Vorgehen der israelischen Armee in diesem Krieg war verheerend. Zwar konnte sie keines ihrer militärischen Ziele umsetzen und zog nach 33 Tagen wieder ab. Ganz im Sinne ihrer „Dahiya-Doktrin“ hatte sie aber großflächige Zerstörungen hinterlassen – auf dem Flughafen von Beirut, an Kraftstoffwerken, Krankenhäusern, Schulen, Straßen und Brücken, aber auch an zivilen Wohnhäusern. Das deklarierte Ziel bestand darin, die Unterstützung der Hisbollah durch große Teile der libanesischen Bevölkerung zu brechen. Dan Chalutz, damaliger Generalstabschef der israelischen Armee, drohte gegenüber dem US-amerikanischen Fernsehsender CNN, man wolle mittels der Zerstörung libanesischer Infrastruktur „die Uhr um 20 Jahre zurückdrehen“. Justizminister Chaim Ramon behauptete, im Südlibanon gebe es nur „Terroristen, die in irgendeiner Weise mit der Hisbollah verbunden sind“. Auch Stellungen der libanesischen Armee wurden beschossen, wobei 46 Soldaten ums Leben kamen. Eine Million Libanesen und eine halbe Million Israelis im Norden des Landes mussten fliehen, insgesamt 1.500 Menschen starben, die Mehrzahl davon libanesische Zivilisten. Die Hisbollah beschoss Ortschaften im Norden Israels, darunter auch Haifa. Ob die beiden israelischen Soldaten auf libanesischem oder israelischem Territorium gefangengenommen worden waren, ist bis heute umstritten. Israels stellvertretender Botschafter in Deutschland, Ilan Mor, erklärte damals allerdings in einem Interview, Israel hätte den Krieg seiner Überzeugung nach auch ohne die Entführung der Soldaten begonnen, da die Hisbollah zu stark geworden sei.
Es war in erster Linie die Hisbollah, welche die zerstörten Gebiete im Libanon wiederaufbaute und als „Verteidiger des Libanon“ großen Zuspruch unter Angehörigen unterschiedlichster Religionsgemeinschaften erhielt. Zugleich aber wurde die Spaltung der libanesischen Politik und Gesellschaft, die sich schon ein Jahr zuvor – nach der Ermordung des ehemaligen Premiers Rafiq al-Hariri – deutlich manifestiert hatte, durch den Krieg verschärft. Die beiden Blöcke „Allianz des 14. März“ – ein prowestliches, von Saad Hariri angeführtes Bündnis – und die „Allianz des 8. März“, der auch die Hisbollah angehörte, standen sich zunehmend unversöhnlich gegenüber. Dabei spielte der Vorwurf, die Hisbollah sei für den Krieg, für dessen Opfer und die großflächigen Zerstörungen verantwortlich, eine entscheidende Rolle – verbunden mit der Forderung nach Abgabe ihrer Waffen. Das militärische Engagement der Hisbollah in Syrien ab 2013 stellten ihre inner- und außerlibanesischen Gegner als Intervention in einen ausländischen Konflikt dar, die den Libanon in Gefahr bringe. Die Hisbollah hielt dem entgegen, der Kampf gegen den „Islamischen Staat“ und andere Terrororganisationen im Nachbarland diene vielmehr dem Schutz des Libanon, der deren nächstes Ziel sei, würden sie in Syrien nicht gestoppt.
Aktuelle Politik
Seit dem 7. Oktober vorigen Jahres kommt es täglich zu gegenseitigem Beschuss auch an der israelisch-libanesischen Grenze. Dabei wird Schätzungen zufolge ein Drittel der israelischen militärischen Kapazitäten gebunden, die damit im Gazastreifen nicht verfügbar sind. Zudem hat die Hisbollah in den letzten zwei Monaten gezielt einen Großteil der israelischen Überwachungsanlagen an der Grenze zerstört. Gemessen an ihrer militärischen Stärke ist ihr Agieren zugleich als zurückhaltend einzustufen – ihre Vertreter betonen, selbst keinen Krieg beginnen zu wollen. Eine Argumentation, die nicht zuletzt vor dem Hintergrund der innerlibanesischen Spaltung zu interpretieren ist. Das Verteidigungsnarrativ stellte auch ihr Generalsekretär Nasrallah am 3. Januar erneut heraus: Tel Aviv habe Anfang Oktober – im Windschatten der Angriffe der Hamas und anderer bewaffneter Gruppen und in Anbetracht der überschwänglichen Solidarität mit Israel – ernste Erwägungen angestellt, den Libanon anzugreifen, um die Hisbollah zu zerstören. Nur die Aufrechterhaltung des Drucks an der Grenze habe den Libanon bislang vor einer neuerlichen israelischen Invasion geschützt.