Am 17. Januar 1945 fand der letzte reguläre Abendappell in allen Lagerteilen statt. Nach den vorliegenden Bestandslisten befanden sich an diesem Tag noch über 67.000 Häftlinge in den beiden Lagern von Auschwitz, knapp 32.000 im Stammlager und in Birkenau sowie gut 35.000 in Monowitz.
Zwischen dem 17. Januar und dem 23. Januar 1945 wurden unter dem Decknamen „Karla“ etwa 56.000 männliche und weibliche Häftlinge evakuiert und in Todesmärschen nach Westen getrieben. In einer Dienstanweisung des Gauleiters und „oberschlesischen Reichsverteidigungskommissars“ Fritz Bracht von Ende Dezember 1944 wurden spezielle Regeln für solche Evakuierungsmärsche festgelegt. Es wurde angeordnet, dass bei drohender „Feindberührung“ Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge zu Fuß evakuiert werden sollten. Für diese Märsche wurden entsprechende Trassen festgelegt.
„Aus Furcht vor Aufruhr und Widerstand sollten die formierten Häftlingsmarschkolonnen Vorfahrt haben, falls sie an Kreuzungen mit anderen Evakuierungstransporten zusammenträfen. Die Führer der Marschkolonnen sowie andere für die Durchführung der Evakuierung verantwortlichen Nazi-Funktionäre vor Ort wurden verpflichtet, flüchtende Kriegsgefangene und Häftlinge wie Saboteure zu behandeln und sie auf der Stelle zu erschießen.“
Unter diesen Bedingungen vollzog sich die Massenevakuierung aus dem Stammlager und den östlich gelegenen Außenlagern. Nachdem die ersten Vorbereitungen recht zögerlich begonnen hatten, wurde angesichts einer erneuten Offensive der Roten Armee das Tempo der Transporte erhöht – mit grausamen Folgen für die Häftlinge. Die SS-Leute trieben die Häftlinge aus den Arbeitskommandos teilweise mehrere hundert Kilometer durch Oberschlesien. Wer zusammenbrach oder nicht mehr weiterlaufen konnte, wurde erschossen und am Straßenrand liegen gelassen.
Größere Marschkolonnen wurden nach Loslau und Gleiwitz geführt, von wo aus Eisenbahntransporte nach Mauthausen und Buchenwald auf den Weg gebracht wurden. Bei eisigen Wintertemperaturen wurden die Häftlinge zum Teil in offenen Viehwaggons transportiert. In der Regel hatten sie für die mehrtägigen Fahrten keine Essensration bekommen. Wer diese Qualen nicht überstand, dessen Leiche wurde auf der Fahrt aus dem Güterwagen geworfen. Zeugen berichteten, dass bei den Transporten nach Buchenwald fast ein Viertel der Deportierten bereits gestorben waren, bevor der Zug sein Ziel erreicht hatte.
Selbst noch auf den Transporten wurden die Massaker fortgesetzt. Bei der Stadt Rybnik ermordeten Polizei und SS fast 300 Häftlinge, als der geplante Transport nach Westen nicht weiterfahren konnte. Den Häftlingen wurde befohlen auszusteigen und zu Fuß weiterzumarschieren. Diejenigen, die wegen Entkräftung den Zug nicht schnell genug verlassen hatten, wurden mit Maschinengewehrfeuer auf die offenen Waggontüren ermordet.
Strzelecki vermerkt auch Fälle von Hilfeleistung aus der Bevölkerung für Häftlinge, die dem Transport entfliehen konnten. Dies sind jedoch lediglich Einzelfälle. In einer Gesamtbilanz kommt er auf eine Zahl von 15.000 Häftlingen, die auf diesen Evakuierungstransporten gestorben sind, richtiger gesagt: ermordet wurden.
In den beiden Lagerbereichen blieben nach dem Abgang der letzten Evakuierungskolonnen etwa 9.000 Häftlinge zurück, die zu schwach oder zu krank zum Marschieren waren. Nach vorliegenden Quellen wurden in den letzten Tagen vor der Befreiung des Lagers noch mindestens 700 Häftlinge ermordet. Die SS sah in ihnen Zeugen der begangenen Verbrechen. Selbst in den Tagen der Auflösung des Lagers erschossen SS-Männer noch Häftlinge, die sich auf der verzweifelten Suche nach Lebensmitteln den Lagermagazinen genähert oder dort bereits Lebensmittel gefunden hatten.
Am 27. Januar 1945 wurden die verbliebenen Häftlinge durch sowjetische Soldaten der 60. Armee der I. Ukrainischen Front befreit. Zuerst wurde das Hauptlager Monowitz freigekämpft. Einheiten der SS und der Wehrmacht leisteten dabei noch erbitterten militärischen Widerstand, so dass mehr als 230 sowjetische Soldaten bei der Befreiung von Auschwitz ihr Leben ließen. Im Laufe des Tages stieß die Rote Armee nach Auschwitz und Birkenau vor. Beide Lagerteile waren gegen 15 Uhr frei. Eine Überlebende beschrieb, wie sie die Befreiung erlebt hatte: „Wir hörten, wie eine Granate in der Nähe des Lagertors detonierte. Wir schauten sofort aus unseren Blocks und sahen einige sowjetische Kundschafter mit schussbereiten Gewehren vom Lagertor in unsere Richtung gehen. An Stöcken hängten wir sogleich weiße Laken mit darauf in Form eines Kreuzes genähten roten Streifen raus. Bei unserem Anblick senkten die Soldaten ihre Waffen. Es kam zu einer spontanen Begrüßung.“
Auszug mit freundlicher Genehmigung des Verlags, Ulrich Schneider, Auschwitz, PapyRossa, 142 Seiten, 9,90 Euro