Derek Chauvin ist am 20. April für einen Mord zweiten Grades, nicht vorsätzlichen Mord, schuldig gesprochen worden. Die Jury befand den Mörder von George Floyd in allen Anklagepunkten für schuldig. Die Urteilsverkündung ist für den 16. Juni vorgesehen. Chauvin kann mit bis zu 40 Jahren Haft rechnen. Wie viel er tatsächlich bekommt, hängt von Richter Peter Cahill ab. Cahill könnte auch deutlich unter der Höchststrafe bleiben.
In der schwarzen Gemeinde der USA ist das Urteil mit großer Befriedigung aufgenommen worden. Die Ermordung George Floyds vor laufender Kamera war ein aufrüttelnder Moment. Der fast zehn Minuten auf seinem Hals kniende weiße Polizist, Floyds immer wiederholte Worte „I can’t breathe“ – „Ich kann nicht atmen“ – geben geradezu ikonografisch die Lage der schwarzen Bevölkerung der USA wieder. Songs mit diesem Titel erschienen. „I can’t breathe“ wurde zum Slogan einer weltweiten Black Lives Matter-Bewegung.
Entgegen der verbreiteten Befürchtung, der Mörder in Polizeiuniform würde auch diesmal davonkommen – wie so oft, wenn Polizisten schwarze Menschen in den USA töten –, war es diesmal anders. Der Prozess hatte internationale Aufmerksamkeit gefunden. Er war zum Politikum geworden. Ein Freispruch hätte zu einer Eskalation der in der Krise ohnehin angespannten innenpolitischen Lage geführt. Dazu waren die Beweise erdrückend. Floyd war unbewaffnet, gefesselt, von ihm ging ganz offensichtlich keine Gefahr aus. Es gab keinen Grund, ihn „in Notwehr“ zu Tode zu würgen. Es ist eher die Frage, ob nicht auch eine Tötungsabsicht unterstellt werden kann.
Ist damit nun alles in Ordnung? Ganz sicher nicht. Am selben Tag, als Chauvin wegen Mordes verurteilt wird, tötet ein ebenfalls unbedrohter Polizist die 16-jährige Ma‘Khia Bryan mit vier gezielten Schüssen. Neun Tage zuvor, am 11. April, erschießt eine Polizistin in Minneapolis den unbewaffneten 20-jährigen Daunte Wright. Die Polizistin beruft sich darauf, ihre Teaserpistole mit ihrer (um ein Mehrfaches schwereren) Dienstwaffe verwechselt zu haben. Am 29. März hatte ein Polizist den erst 13-jährigen Latino Adam Toledo in Chicago erschossen. Der Junge hatte sich auf Zuruf den Polizisten gestellt, hatte beide Hände erhoben und seine leeren Handflächen gezeigt. Unmittelbar danach wurde er ermordet. In jedem Jahr werden in den USA rund 1.000 Menschen von der Polizei erschossen. In den ersten drei Monaten dieses Jahres waren es über 200. Davon waren es, in Relation zum Bevölkerungsanteil, wieder überproportional viele People of Colour. Auch Ma’Khia Bryan, Daunte Wright und Adam Toledo.
Der US-amerikanische Rassismus sitzt tief. Er ist gewissermaßen Staatsreligion. Ohne einen militanten Rassismus wäre der Völkermord an der indigenen Bevölkerung nicht möglich gewesen, hätte es die gewaltsame Entführung von Millionen schwarzer Menschen aus ihrer afrikanischen Heimat, ihre Versklavung und die brutale Zwangsarbeit auf den amerikanischen Baumwoll- und Zuckerrohrfeldern nicht geben können. Nach dem US-amerikanischen Bürgerkrieg verschwand zwar die Institution der Sklaverei, keineswegs aber der Rassismus. Es war für den Kapitalismus schon immer nützlich, Menschen zweiter Klasse zu haben. Nach dem Ende der Sklaverei bis in die 1950er Jahre wurden rund 5.000, vor allem schwarze Menschen Opfer von öffentlichen, brutalen Lynch- und Foltermorden – häufig initiiert vom Ku-Klux-Klan. Nichtöffentlich wird diese Mordtradition bis auf den heutigen Tag fortgeführt.
Mit der neoliberalen Offensive wurde die arbeitende Bevölkerung zum Ziel einer breit angelegten Verarmungs- und Dequalifizierungsstrategie. Ganz besonders im Fokus: die Communities der Afroamerikaner, der Latinos, der aus dem asiatischen Raum stammenden Bevölkerung. In der Corona-Krise hat sich ihre ohnehin prekäre Lage noch deutlich verschärft. Gewalt, Überschuldung, Arbeits- und Perspektivlosigkeit, Gesundheitsprobleme und häufig auch Hunger prägen den Alltag. Dagegen steht der obszöne Reichtum der oberen 0,1 Prozent. Die dadurch aufbrechenden gesellschaftlichen Konflikte sollen durch eine militärisch aufgerüstete Bürgerkriegspolizei unterdrückt werden. Das US-Imperium im Niedergang hat nicht nur den mit Abstand weltweit größten gefängnis-industriellen Komplex, sondern auch den gigantischsten Überwachungs- und Unterdrückungsapparat, den es derzeit gibt, hervorgebracht.
Um erfolgreich sein zu können, wäre es notwendig, die rassistische Unterdrückung, die Polizei-Brutalität im Kontext ihrer gesellschaftlichen, sozialökonomischen Basis zu erkennen. Opfer der neoliberalen Formierung, der kapitalistischen Krise, sind nicht nur schwarze Menschen. Auch weiße Menschen werden erschossen, auch Weiße verlieren ihren Job, auch Weiße hungern. Nur wenn die Opfer des Kapitalismus und seiner Krisen zueinanderfinden, wenn sie gemeinsam gegen Unterdrückung und gegen die Übertragung der Krisenlasten kämpfen, können sie gewinnen.