Vier Wochen vor den Neuwahlen in der Millionenmetropole Istanbul hat die türkische Führung die jahrelange Totalisolation des inhaftierten PKK-Chefs Abdullah Öcalan beendet. Der prominente politische Gefangene darf nach Jahren wieder Besuche von seinen Anwälten bekommen. 810 Mal hatten Öcalans Rechtsbeistände seit Juli 2011 einen Antrag gestellt, ihren Mandanten in Imrali zu besuchen. Mal um Mal, Jahr um Jahr vergeblich. Auf der Gefängnisinsel im Marmarameer verbüßt der zu lebenslanger Haft verurteilte Gründer und Vordenker der in der Türkei und der EU verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) seit 1999 seine Haftstrafe. Am 2. Mai, dem Tag, an dem die Istanbul-Wahl annulliert wurde, durften die Anwälte Öcalan schließlich nach einer Ausnahmeregelung erstmals nach acht Jahren besuchen. Der türkische Justizminister Abdülhamit Gül hob die Besuchssperre schließlich ganz auf. Es folgte ein weiterer Anwaltsbesuch am 22. Mai, in dessen Folge das Aus des Hungerstreiks.
Nach einem Appell Öcalans beendeten am vergangenen Sonntag Tausende Mitglieder der PKK in türkischen Gefängnissen, Abgeordnete der prokurdischen „Demokratischen Partei der Völker“ (HDP) sowie Aktivisten in Deutschland und anderen europäischen Ländern ihren teils seit Monaten andauernden Hungerstreik. Mit der drastischen Protestform haben sie für die Verbesserung der Haftbedingungen von Öcalan gestritten. „Der große Widerstand endet heute auf Bitte von Herrn Öcalan“, erklärte der HDP-Abgeordnete Tayip Temel. Die Anwälte Öcalans betonten, der PKK-Gründer sehe die Ziele des Streiks erreicht. „Ich erwarte, dass die Aktion beendet wird“, forderte Öcalan laut der von seiner Anwältin Nevroz Uysal bei einer Pressekonferenz in Istanbul verlesenen Erklärung. In einem handschriftlichen Brief des 71-Jährigen heißt es: „Ich rufe alle Freundinnen und Freunde, die sich im Hungerstreik und im Todesfasten befinden, dazu auf, ihre Aktion zu beenden. Ich kann mit Gewissheit sagen, dass der in Bezug auf meine Person gerichtete Zweck eurer Aktion sein Ziel erreicht hat. Ich möchte euch hierfür meine Liebe und meinen Dank zum Ausdruck bringen.“ Seine Anhänger rief Öcalan auf, im Kampf um Frieden und Freiheit nicht nachzulassen: „Ich erhoffe ausdrücklich, dass ihr mich auch fortan mit der notwendigen Intensität und dem notwendigen Willen auf unserem Weg begleiten werdet.“
Die HDP-Abgeordnete Leyla Güven, die Anfang November aus Protest gegen die Isolation Öcalans in einen Hungerstreik getreten war, teilte über Twitter mit: „Ich beende meinen Streik“; sie werde aber den „Kampf gegen Isolation und für sozialen Frieden“ fortsetzen. Unmittelbar nach ihrer Erklärung wurde die extrem geschwächte Abgeordnete, die sich in den vorausgegangenen 200 Tagen nur von Flüssigkeit und Vitaminen ernährt hatte, in Diyarbakir in ein Krankenhaus gebracht.
Die Lockerung der Isolationshaft Öcalans ist weniger dem Druck der vielen Hungerstreikenden in den Knästen der Türkei und von Solidaritätsaktionen draußen geschuldet, als vielmehr dem nüchternen Kalkül von Präsident Recep Tayyip Erdogan und seiner islamistischen Regierungspartei AKP. Die soll bei den erzwungenen Neuwahlen um den mächtigen Bürgermeisterposten in Istanbul am 23. Juni das Rennen machen – und buhlt dabei nun um die Stimmen kurdischer Wählerinnen und Wähler. Die HDP, die bei vergangenen Wahlen mehr als 10 Prozent in Istanbul erreicht hatte, war bei den Kommunalwahlen im März dort nicht angetreten und hatte so den Sieg des sozialdemokratischen CHP-Kandidaten Ekrem Imamoglu gegen die seit 25 Jahren die Kommune dominierende AKP möglich gemacht – mit einem knappen Vorsprung von nur 13 000 Stimmen. Nicht auszuschließen also, dass Erdogan in den kommenden Wochen bis zur Wahl auch noch prominente HDP-Gefangene frei lässt oder nach den Wahlen die 2015 ausgesetzten Friedensgespräche wieder aufgenommen werden. Die HDP hat gleichwohl angekündigt, Imamoglu weiter unterstützen zu wollen.
Der türkische Staatschef fährt denn auch mehrgleisig und nimmt parallel zum versuchten Schmusekurs mit den Kurden die CHP direkt unter Beschuss. Die Staatsanwaltschaft in Istanbul erhob mittlerweile nach Informationen der türkischen Nachrichtenagentur „DHA“ gegen die CHP-Vorsitzende der Stadt, Canan Kaftancioglu, Anklage. Der Politikerin wird Terrorpropaganda, Volksverhetzung, Präsidentenbeleidigung, Beamtenbeleidigung und Verunglimpfung des Staates vorgeworfen. Es geht um Beiträge, die Kaftancioglu zwischen 2012 und 2017 in sozialen Medien geteilt haben soll. Erdogan persönlich gehört zu den Klägern. „Teile und herrsche“ bleibt die Maxime.