In verschiedenen UZ-Ausgaben wurde der Tarifabschluss in der Metall- und Elektroindustrie zum Teil sehr heftig kritisiert. Gemessen an klassischen gewerkschaftlichen Maßstäben ist das materielle Ergebnis in der Tat bescheiden. Reallohnsicherung? Die Entgelttabellen werden bis Ende 2020 festgeschrieben, die Realeinkommen also gesenkt. Kaufkraftstärkung? Von diesem Abschluss gehen keine stabilisierenden Impulse für die Binnennachfrage aus. Umverteilung? Die Nullrunde beim Lohn steht in einem krassen Missverhältnis zu den Gewinnen der Konzerne in den letzten Jahren der Hochkonjunktur.
Doch Tarifrunden sind keine Rechenexempel. Ihre Ergebnisse hängen ab von den Kräfteverhältnissen zwischen Kapital und Arbeit. Zu einer Bewertung der Tarifrunde gehört auch ein Blick auf die Rahmenbedingungen und auf die Diskussionen in Betrieben und gewerkschaftlichen Gremien.
Im November/Dezember 2019 diskutierten Mitglieder und Vertrauensleute in den Betrieben die Forderungen für die Tarifrunde 2020. Diese Diskussionen wurden am 16. Januar 2020 in allen Tarifkommissionen bundesweit zusammengefasst. Dabei wurde – zumindest dort, wo ich etwas Einblick habe – aus vielen Betrieben berichtet, dass unter dem Eindruck beginnender konjunktureller Eintrübung und unsicherer Zukunftsaussichten im Zuge von Digitalisierung, Dekarbonisierung und so weiter in den Diskussionen eher die Beschäftigungssicherung im Vordergrund stand als eine offensive Entgeltforderung.
Vor diesem Hintergrund präsentierte der IG-Metall-Vorstand am 24. Januar der Öffentlichkeit und der staunenden Mitgliedschaft den Vorschlag für ein „Moratorium für einen fairen Wandel“. Darin forderte er neben dem befristeten Verzicht der Kapitalseite auf einseitige Maßnahmen wie Entlassungen, Stilllegungen und Verlagerungen und ähnlichem ihre Verpflichtung auf „Verhandlungen zu betrieblichen Zukunftstarifverträgen“ mit der „Festlegung konkreter Investitions- und Produktperspektiven für Standorte und Beschäftigte“ – also eine auf wirtschaftliche Fragen erweiterte Mitbestimmung, aus Sicht der Kapitalbesitzer ein Eingriff in ihr Allerheiligstes.
Dies sollte allerdings in Verhandlungen noch vor Ende der Friedenspflicht erreicht werden, also ohne Warnstreiks und weitere Kampfmaßnahmen. In der Mitgliedschaft war diese Orientierung sicher nicht dazu geeignet, vorhandene „sozialpartnerschaftliche“ Illusionen zu überwinden. Zusammen mit dem Verzicht auf eine konkret bezifferte Entgeltforderung wirkte sie eher verwirrend und demobilisierend.
In den Medien fand der „Moratoriums“-Vorschlag ein positives Echo. Die Antworten der Kapitalseite allerdings – im Ton im Süden eher scharf, in NRW eher moderat – machten unmissverständlich klar: Eine Ausweitung der Mitbestimmung würde es mit ihnen nicht geben. Sie griffen nach der ausgestreckten Hand und forderten ein „Belastungs-Moratorium“: fünf Jahre Lohnstopp. Bei einem „normalen“ weiteren Verlauf der Tarifrunde hätte die Kapitalseite sicher weitere Anknüpfungspunkte geliefert für die Verfechter einer offensiven Gewerkschaftspolitik in der IG Metall, um deutlich zu machen: Ohne Druck aus den Betrieben gibt es weder mehr Lohn noch die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland und schon gar keine Zukunftssicherung in der „Transformation“.
Doch dann kam Corona. Massenhafte Kurzarbeit, verbunden mit Versammlungsverboten, machte über Nacht die klassischen Aktionsformen in Tarifrunden de facto unmöglich. Dieser Praxistest bestätigte die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts, Tarifrunden ohne die Möglichkeit des Arbeitskampfes seien nichts anderes als „kollektives Betteln“ (BAG am 10.06.1980, 1 AZR 168/79).
Mit der massiven Kurzarbeit rückte auch die Frage einer Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf die Tagesordnung. Tarifliche Aufzahlungsregelungen gab es bisher zum Beispiel bei Volkswagen oder in Baden-Württemberg, fast überall in der Fläche aber nicht. Diese wurden nun im „Solidar-Tarifvertrag“, neben einigen weiteren Verbesserungen, erkauft durch die Nullrunde bis Ende des Jahres. Sicher kein großer Sieg der IG Metall – aber ein Akt der Solidarität mit weniger kampfstarken Belegschaften und ihren Betriebsräten, welche sonst in der Frage der Kurzarbeitergeld-Aufstockung allein gestanden hätten.
Dies dürfte die hohe Akzeptanz für einen materiell so bescheidenen Abschluss erklären. In den Videokonferenzen der Tarifkommissionen im Bezirk Niedersachsen und Sachsen-Anhalt zum Beispiel wurde er einstimmig angenommen, ebenso wie der Pilotabschluss in der Tarifkommission NRW.