Die poetischen Bilder, die Heinrich Heine in seinen beiden Großgedichten „Atta Troll. Ein Sommernachtstraum“ (1843) und „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844) mit Worten mal nur skizziert, mal ausmalt, sind oft so gut, dass sie gar keine Metrik oder Reimkunst bräuchten, um zu leuchten. Der Mensch als solcher ist da beispielsweise steckbrieflich ausgewiesen als das „Untier, welches Hosen trägt“, und die „tiefste Frechheit“ einer Person offenbart sich „durch das Lächeln“ (wer je bei einer Verhandlung am Tisch mit einem „Arbeitgeber“ sitzen musste, kennt das). Die Religion ist bei Heine ein Zustand, in dem sogar das Ungeziefer „im Bart des greisen Pilgers“ den „ew’gen Lobgesang“ anstimmt; und die Idioten schauen, wenn dann auch noch der „imperiale Märchentraum“ beschworen wird, gern „geisterhaft“ (sieht Joseph Biden nicht wirklich mit jedem Auftritt bleicher und durchsichtiger aus, dieses fadenscheinige Phantom?). Die Zukunft, die solche Spukgestalten überwinden kann, wird nicht von Debattierzirkeln gebracht, sondern von „fröhlicher Kavallerie“. Sie kann nicht einmal der Kölner Dom einschüchtern, der gedacht und gebaut war als „des Geistes Bastille“. Leider aber helfen die Deutschen beim Fortschritt oft nicht mit, sondern storchen lieber durch die Welt, „als hätten sie verschluckt den Stock/Womit man sie einst geprügelt“.
So schön und treffend seine Bilder sind, so wenig verlässt sich Heine auf ihre blanke Evidenz. Außer der phantasiezündenden Kraft und Musikalität der Wörter zählt für ihn auch ihre Eignung, komplexe Zusammenhänge sinnfällig zu machen. In der literaturgeschichtlich-politischen Abhandlung „Die romantische Schule“ (1836) schreibt er, dass „jede Zeit“ eine „Sphinx“ sei, „die sich in den Abgrund stürzt, sobald man ihr Rätsel gelöst hat“ – eine einprägsame Kurzdarstellung der dialektischen Lehre des Philosophen Hegel (den Heine in Berlin bei Vorlesungen persönlich erlebt hat) von den Selbstaufhebungstendenzen jeder Epoche im dialektischen Prozess. Das war für Heine kein reines Ideentheater; im selben Text, der den Sturz der Sphinx in den Abgrund in geschichtsphilosophischer Absicht herbeizitiert, stellt er unter anderem fest, der kraftvolle Realismus der Literatur von Frankreichs Kaiserperiode verdanke sich ihrer „materiellen Herrlichkeit“.
Auch im „Wintermärchen“ denkt Heine über das Verhältnis von Gedanke und Tat, Feder und Schwert nach. Der ganze Text steht wie unter Strom, weil jede seiner Wahrheiten vor Wissen darüber knistert, dass sie als bloß abstrakte Wahrheit, der kein Handeln folgt und die nicht umgekehrt auch selbst durch Handlungen erlernt und gewonnen ist, absterben müsste. Für die oft vorgebrachte Behauptung, das „Wintermärchen“ sei der Höhepunkt von Heines Werkbiografie, lassen sich beste Gründe finden, nicht nur der eher äußerliche, dass der Dichter während der Arbeit an diesem Gipfeltext unter anderem regen persönlichen und geistigen Umgang mit einem anderen von Hegel angeregten Menschen pflegte, nämlich Karl Marx, und dass man wenig Mühe hat, diese Art Austausch dem Text anzumerken. Vielleicht hat Heine das „Wintermärchen“ sogar mit kühlem Kopf und berechtigtem Selbstbewusstsein von vornherein als Werkgipfel konzipiert, stellt es doch eine planmäßige Vereinigung der Vorzüge seiner bis dahin beim Publikum erfolgreichsten Schöpfungen dar, nämlich erstens der Fahrtenbetrachtung „Die Harzreise“ (1824), die nach einigen nicht erfolgsverwöhnten Frühwerken sein literarischer Durchbruch gewesen war, und zweitens der lyrischen Schatztruhe „Buch der Lieder“ (1827), die zwar in Ton und Sprachfarbenspektrum noch ganz dem sentimentalen Zeitgeschmack der Romantik entsprach, mit einigen kleinen, bunten Blitzeffekten aber auch schon auf einen Schaffensabschnitt vorauswies, in dem Heine den romantischen Subjektivismus ironisch brechen und damit bald ganz überwinden wird.
Die Objektivierung des Persönlichen, der Schritt vom simplen Gedanken: „Ich fühle“ zum interessanteren Problem: „Was für einer ist das denn, der da fühlt, und auf welchem Epochenschauplatz tut er’s?“ ist dabei ein Fortschritt, der im Einzelmenschen die fortschrittlichen Chancen des Zeitalters insgesamt nutzen wollte.
Von diesen Chancen wusste der am 13. Dezember 1797 in Düsseldorf als Sohn eines Tuchhändlers aus dem Milieu des aufgeklärten Judentums geborene Heine, weil er als Schüler zwar antisemitische Hänseleien erlebt hatte, die noch beißend nach Mittelalter rochen, die Emanzipation von solchem Dreck als reale Gelegenheit aber kennenlernte, als der Einmarsch Napoleons endlich Echos der französischen Revolution nach Deutschland trug.
Bonapartes Herrschaft hatte diktatorische Züge, brachte aber dialektischerweise nicht wenigen vormals Verfolgten, darunter Juden, die Freiheit.
Auf die revolutionäre und die napoleonische Zeit freilich folgte ein hässliches System unterm Bleideckel der Einigung der reaktionärsten Kräfte Europas in den Jahren 1814 und 1815, das den Namen des österreichischen Restaurationspolitikers Klemens von Metternich trug und die geistig wie leiblich Freiheitsdurstigen der Zensur und Repression unterwarf, sie von einem Land ins andere, wieder zurück und dann vielleicht ganz woanders hin jagte und so auch in Heines Leben, Denken und Schreiben seine bedrückenden Spuren hinterließ.
Ein Dulder war dieser Schriftsteller jedenfalls nicht. Schnell geriet er vielmehr in Streitigkeiten, auch mit im Grunde geistesverwandten Leuten wie Ludwig Börne. Nicht immer hat sich Heine in seinen Fehden vorbildlich verhalten – auf dem Tiefpunkt lief sein Krieg gegen den Dichter August Graf von Platen restlos aus dem Ruder: Platen hatte Heine mit antijüdischen Scherzen verspottet, dafür revanchierte sich Heine mit der öffentlichen Bloßstellung der Homosexualität des Feindes. Das Ganze ging aus wie heute die Shitstorm-Schlachten um Ruf und Reichweite, ohne Sieger, mit nichts als Schmach und Schmutz auf sämtlichen Seiten. Zu einem ungeschönten Porträt Heines gehört die Erwähnung seiner durchaus nicht unsympathischen Fähigkeit, auf notfalls katastrophale Art Umstände loszuwerden, die ihm andere aufzwingen wollten – den Tuchhandel, in dem ihn die Familie sehen wollte, fuhr er an die Wand, und auch aus der Empfehlung, Jurist zu werden, hat er sich erfolgreich herausgewunden. Auch an seinen Schöpfungen aber sitzt nicht alles, mitunter erwecken sie den Eindruck von Flüchtigkeit, Unachtsamkeit, fast schon Gleichgültigkeit gegen die Formerfordernisse bei der Gestaltung selbstgewählter Stoffe und Themen.
Solche Mängel gibt’s sogar im „Wintermärchen“: Den relativ platten, aber nicht fürchterlichen Reim „nicht minder“ auf „Kinder“ wiederholt er auf engstem Raum, mit wenigen Vierzeilern dazwischen, dazu kommen Reime wie „Strohwisch“ auf „philosophisch“, und die stellenweise holprigen Rhythmen bringen, wie man auf einer ansonsten sehr schönen „Wintermärchen“-CD nachhören kann, sogar einen geübten Rezitator wie Lutz Görner in Schwierigkeiten.
Man kann das Fahrige in manchen von Heines Schriften als Reflex der politischen Gehetztheit einer ganzen literarischen Generation auffassen, derjenigen, die im sogenannten „Vormärz“ wirkte, der schweren Zeit vor den revolutionären Geschehnissen des Jahres 1848.
Anders als das Werk vieler anderer, die dieses vormärzliche Schicksal mit ihm teilten, bleibt seines jedoch von anhaltendem Interesse. Die Qualitätsschwankungen darin haben die auf Deutsch dichtende und denkende Linke seit Heines Tod im Jahr 1856 (nach jahrelangem Siechtum und lähmender Bettlägerigkeit im französischen Exil) beschäftigt und tun es bis heute. So fand der bürgerliche Pazifist und mutige Aufklärer gegen Presselügen Karl Kraus Heines Erscheinung problematisch genug, dass er ihr eine eigene Kampfschrift namens „Heine und die Folgen“ (1910) widmete, und Bert Brecht urteilte 1940 in seinem Arbeitsjournal, Heine gehöre wohl auf die immer nah am Epigramm, am zündenden Spruch entlang formulierte Linie der deutschen Literatur, die seit Goethes Tod gespalten sei. Heines Seite nach der Spaltung nennt Brecht dabei die „profane“, auf die andere gehören eher priesterliche, „pontifikale“ (Brecht) Leute wie Friedrich Hölderlin oder Stefan George. Diese zweite Linie war sicher nicht nach Brechts Geschmack, der das Realistische und unmittelbar Einleuchtende schätzte. Aber auf Heines epigramm-orientierter Linie verlottere, so Brecht, die Sprache leider „immer mehr“, „da die Natürlichkeit durch kleine Verstöße gegen die Form erreicht werden soll. Außerdem ist die Witzigkeit immer ziemlich unverantwortlich, und überhaupt enthebt die Wirkung, die der Lyriker aus dem Epigrammatischen zieht, ihn der Verpflichtung, lyrische Wirkung anzustreben, der Ausdruck wird mehr oder weniger schematisch, die Spannung zwischen den Wörtern verschwindet, überhaupt wird die Wortwahl, vom lyrischen Standpunkt aus betrachtet, unachtsam, denn es gibt im Lyrischen eine eigene Entsprechung für das Witzige.“
Peter Hacks, ein anderer kommunistischer deutscher Dichter, urteilte 1980, vierzig Jahre nach Brechts Journaleintrag: „Ich habe des ‚Wintermärchens‘ wegen den ganzen Heine gelesen und eben doch den großen Verfall der Form festgestellt, wenn ich den auch vollkommen anders werte als Karl Kraus.“ Für Hacks nämlich war Heine nicht der sozusagen bestechliche, nämlich die Sprache aus Gefallsucht und Ruhmgier auf das Niveau einer für Dumme fassbaren Eingängigkeit drückende poetische Spekulant, als den Kraus ihn sah und schmähte. Denn Hacks wusste, genau wie Brecht, was das marxistische Bild der (nicht nur literarischen) Geschichte „seit Goethe“ weiß, nämlich die Wahrheit über das Verhältnis des zur Herrschaft gelangten Bürgertums zu seinen angeblichen geistigen, also auch kulturellen Werten.
In der Kampfzeit gegen die Adelsherrschaft fordert die Bourgeoisie bekanntlich die Freiheit der Meinung, der Forschung, des Arguments und der Künste, weil sie in diesem historischen Abschnitt bei alledem nur gewinnen kann: Der Adel und der Klerus setzen schließlich eher auf „Das war schon immer so“ und auf „Gott will es“ als auf Argumente, außerdem müssen sie im Streit mit dem Fortschritt immer auch die Ausdrucksfülle der Künste einschränken, in denen andernfalls unvorhersehbare Stoffe und Themen auftauchen können und die Widersprüche der mittelalterlichen Ideologien sich als Risse im Abbild der Welt zeigen, durch welche womöglich der Vorschein denkbarer, ganz anderer Zeiten fällt.
Sobald die Bourgeoisie jedoch selbst die politische Macht erlangt hat, wird ihr Liberalismus zur nackten Rechtfertigung des ökonomisch-sozialen Faustrechts. Heinrich Heines Klage über „den anarchischen Zustand der deutschen politischen und literarischen Zeitungsblätterwelt“ ist in dieser Lage die treffende Diagnose des Überbaus, wie das Marx-Wort von der „Anarchie der Produktion“ diejenige der Basis.
Denn Unordnung und Tyrannei schließen einander nicht zwingend aus; es gibt nun mal eine Ebene des von der herrschenden Klasse gewollten Durcheinanders, am Liebsten in den Köpfen und in den Medien (vom Kneipenklatsch bis in die „sozialen Netzwerke“).
Wenn Karl Kraus davon spricht, dass die allgemeine bürgerliche Publizistik, die linke wie die rechte, seit Heine immer mindestens entweder ihren Stoffen oder ihren Formen Gewalt antut, ist das gewiss wahr. Markt und Meinungsgezeiten lassen das Schreiben mal inhaltlich („schlecht recherchiert“), mal formal („schlecht geschrieben“) entgleisen. Das lässt sich aber nicht allein dadurch ändern, dass man den Leuten, die wenigstens mit Texten den Kampf gegen diese Zustände aufnehmen, ihre Fehler anstreicht, auch wenn das manchmal nötig ist. Die Produktionsverhältnisse sind zu ändern, nicht nur die der Erzeugung von Texten. Wir Heutigen sollten Heinrich Heine lesen, den Mängeln zum Trotz, die ihm eine widerliche Epoche aufgezwungen hat, und ihn für seine Stärken lieben, allen voran Hartnäckigkeit und Unbeugsamkeit, Tugenden, ohne die sich in unserem Geschichtsabschnitt, in dem die letzten Elfenbeintürme einstiger bürgerlicher Hochkultur zu Geröll zerfallen, weder schreiben noch leben lässt. Selbst als ein böser Weltzustand sich alle Mühe gab, Heine die Zähne im Mund zu zerbrechen, hat er nicht aufgehört, den Feind zu beißen.