Als am 21. August 1968 die Truppen von sieben Staaten des Warschauer Vertrages in Prag einmarschierten, um der Zerstörung des Sozialismus in der sozialistischen Tschechoslowakei ein militärisch untermauertes „Stopp“ entgegenzusetzen, war eigentlich kaum noch jemand wirklich überrascht. Zumindest die führenden bundesdeutschen Politiker, Medienvertreter und die Generäle der Bundeswehr nicht. Dass es zur bis dahin heftigsten Krise zwischen „Ost und West“ kommen würde, das war auch den „einfachen“ Soldaten der Bundeswehr im Sommer 1968 klar. Die DDR war auf Grund der historischen Vorbelastung durch den Überfall deutscher Truppen auf die Tschechoslowakei 1939 nicht Teil der gemeinsamen Militäraktion.
Als damaligem Angehörigem des Flugabwehrraketen-Bataillons 36 in Oldenburg war es also für mich keine wirkliche Überraschung, als Ausgangssperre und Daueralarm mit Rundum-Besetzung in allen Kampfeinheiten und in der Stabs- und Versorgungsbatterie bereits einige Tage vor dem 21. August 1968 verhängt wurden.
Damals war ich Obergefreiter, stand kurz vor dem Ende meiner freiwilligen zweijährigen Dienstzeit und war in Gedanken schon bei meinem sieben Wochen später beginnenden Studium.
Als eifrigem „Spiegel“-Leser, der damals das „Linkeste“ war, was ich mir überhaupt vorstellen konnte, weil er ja regelmäßig und mit viel Wohlwollen über die Studentendemonstrationen berichtete, war ich – so dachte ich in meiner Naivität – „gut informiert“. Insofern war ich deshalb emotional schon länger auf der Seite des „Prager Frühlings“ gewesen. Alexander Dubcek, der Wortführer der „Reformkommunisten“ – was immer das auch inhaltlich bedeuten sollte – war für mich eine integre Person, die den Ballast des sowjetischen „Stalinismus“ abschütteln wollte. Andererseits war ich nicht besonders engagiert dabei, weil der Streit über den „wahren“ und/oder demokratischen Sozialismus mir nicht viel bedeutete.
In meinem persönlichen Umfeld waren die meisten „Kameraden“ aber aus militärischen „Vernunftgründen“ darauf eingestimmt, dass es bald „knallen“ würde und dass „die Russen“ nicht länger zusehen würden, was in dem unmittelbar an das Territorium der Nato grenzenden Mitgliedstaat des sozialistischen Militärbündnisses passieren würde.
Dass der von der Regierung der CSSR angekündigte Austritt aus diesem Bündnis für die UdSSR nicht einfach hinnehmbar sein konnte, war selbst mir klar. Noch einmal würde eine sowjetische Regierung ein Heranrücken von Truppen fremder Länder an ihre Westgrenze nicht akzeptieren. Noch waren die Erfahrungen des Überfalls von 1941 aus den vorgeschobenen Mobilisierungsräumen im polnisch-sowjetischen Grenzgebiet nicht vergessen. Deshalb war mir die damalige propagandistische Empörung über die angebliche „Breschnew-Doktrin“ über die „begrenzte Souveränität“ ihrer militärischen Bündnispartner auch ziemlich egal. Das erschien mir logisch.
Aus etliche Jahre später veröffentlichten Geheimdokumenten des Nationalen Sicherheitsrates der USA (NSC) wurde dann auch klar, wie langfristig diese Kampagne gegen die Sowjetunion angelegt war. Es sollte ein „abtrünniger“, ein „häretischer“ Kommunismus der „Übergangszeit“ aufgebaut und toleriert werden um die als „Stalinisten“ diffamierten Führungen der Bündnispartner der Sowjetunion zu verdrängen.
Das „Memorandum 58“ des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) der USA vom 14. September 1949 machte dies sehr deutlich. (B. Greiner/K. Steinhaus: Auf dem Weg zum 3. Weltkrieg? Amerikanische Kriegspläne gegen die UdSSR. Köln 1981, S, 182 ff.)
Fast alle Wortführer der damaligen sogenannten „Außerparlamentarischen Opposition“ (APO) solidarisierten sich mit den Gegnern des Sozialismus in der Tschechoslowakei und den sie unterstützenden NATO-Staaten. Ich fand das als damals nur emotionaler „Linker“, dessen politisches Wissen gegen Null ging, „übertrieben“.
Aber für die im SDS arbeitenden kommunistischen Studenten brachen schwierige Zeiten an. Auf den Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Bulgarien organisierte ein Teil der westdeutschen Delegation unter Führung des SDS-Vorsitzenden K. D. Wolff zusammen mit jugoslawischen und tschechoslowakischen Gruppen eine „Protestaktion“ gegen die militärische Intervention. Es kam zu den erwünschten und erwarteten Festnahmen.
Die Vertreter der Marxisten/illegalen Kommunisten im SDS kritisierten die offenkundig mit der Springer-Presse und der SPD-Führung abgesprochene Aktion. Die antikommunistische Mehrheitsfraktion setzte daraufhin auf der 23. SDS-Delegiertenkonferenz am 13. September 1968 den Ausschluss von fünf Genossen durch. Das war ein echter Prüfstein für ihren sozialistisch-proletarischen Internationalismus.
Die Ausgeschlossenen formierten sich ab Januar 1969 zunächst zu einem lockeren Verbund „Spartakus – Assoziation Marxistischer Studenten“, der sich im Mai 1971 zum „Marxistischen Studentenbund Spartakus“, umorganisierte. Dem trat ich aber erst im Januar 1972 bei. Der „Einmarsch“ vom August 1968 stellte auch für mich zunächst ein Hemmnis dar. Für dessen Überwindung brauchte auch ich erst noch mehr Informationen und Nachdenkzeit. Insofern hatte der August 1968 auch für mich eine persönliche politische Konsequenz.