Mangelnde Aufarbeitung der Corona-Krise und ihrer Folgen

Systemversagen

Tilo Gräser

Die Pandemie im Zusammenhang mit Covid-19 gilt allgemein als beendet. Die letzten Corona-Maßnahmen in der Bundesrepublik sind Anfang April dieses Jahres ausgelaufen. Im Mai verkündete die Weltgesundheitsorganisation WHO, die Pandemie gelte nicht mehr als internationaler Gesundheitsnotstand. Seit Mitte 2022 wird in der Bundesrepublik über die Aufarbeitung der Pandemie und der mit ihr verbundenen politisch beschlossenen Maßnahmen diskutiert.

Der Politikwissenschaftler Michael Klundt sagte in einem Interview mit den „NachDenkSeiten“ im Februar dieses Jahres: „Allmählich müssten die einseitigen politischen, medialen und wissenschaftlichen Panikattacken auf die Bevölkerung vom ‚Killer-Virus‘, das uns alle sofort tötet, bis zum ‚absolut nebenwirkungsfreien‘ Impfstoff, der uns allen zwingend verabreicht werden muss, weil er ‚umfassend schützt‘ und eine Weitergabe ‚garantiert verunmöglicht‘ (während alle Ungeimpften ‚asoziale Volksfeinde‘ sind), wenigstens annähernd kritisch aufgearbeitet werden.“

„Die Forderung nach einer Aufarbeitung der Corona-Pandemie und die Einrichtung einer Enquete-Kommission sind aktueller denn je“, stellte eine Gruppe von renommierten Wissenschaftlern und Medizinern im April fest. Zuvor hatte sie bereits mit einer Reihe von Thesenpapieren und Stellungnahmen die Corona-Politik kritisch begleitet. Ihre Vorschläge und Anregungen sind bis heute nicht umgesetzt.

Umfangreiches Spektrum

Die Wissenschaftler und Mediziner üben deutliche Kritik am bisherigen Stand der Aufarbeitung der Corona-Krise und all ihrer Folgen. „Die Kommission sollte erstens die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie und Kollateralschäden umfassend untersuchen und Strategien für ihre Bewältigung und zukünftige Vermeidung erarbeiten.“ Das Spektrum reicht dabei vom Gesundheitssystem mit all seinen Bereichen bis zum Bildungssystem von der Kita bis zur Hochschule, einschließlich sozialer und psychologischer Faktoren. Es reicht von den sozialen Spannungen und psychischen Belastungen der Menschen über die Verschärfung sozialer Ungleichheiten bis hin zu den wirtschaftlichen Auswirkungen der „Pandemie(maßnahmen)“ und den Kollateralschäden für das kulturelle und soziale Leben.

Eine interdisziplinäre Zusammensetzung der Kommission sei notwendig, die auch „fachlich fundierte Kritik am Pandemiemanagement der letzten drei Jahre“ einbinden soll. Neben einem „hohen Maß an Transparenz und Öffentlichkeit des Verfahrens“ wird gefordert, die Erfahrungen der Menschen in der Corona-Krise „in angemessener Weise“ aufzugreifen und einfließen zu lassen. „Wir wünschen uns im Sinne des gesellschaftlichen Friedens und im Interesse einer konstruktiven Nachbereitung der Pandemie breite, überparteiliche Unterstützung für die Einrichtung einer solchen Kommission“, so die Expertengruppe. „Zu guter Letzt muss die Aufarbeitung der Pandemie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden.“

Anfang Juni stellten die oben genannten Wissenschaftler und Mediziner fest: „In der derzeitig beginnenden Aufarbeitung der Corona-Krise drohen fachliche und wissenschaftliche Gesichtspunkte aus dem Blickfeld zu geraten, stattdessen dominieren Apologien oder leicht zu durchschauende Mea-culpa-Eingeständnisse (‚Ja, bei den Kindern haben wir uns geirrt‘). Unter der Maxime ‚Nicht zurückschauen!‘ soll auf diese Weise die politische Verantwortung für die entstandenen Defizite bei bestimmten Bevölkerungsgruppen und Wirtschaftsbereichen relativiert beziehungsweise gegenstandslos gemacht werden.“

Verletzte Standards

In einem Beitrag in der Zeitschrift „Monitor Versorgungsforschung“ benennen sie 14 Aspekte für die Aufarbeitung, die vom Krankheitsverständnis über die Patienten- und Qualitätsorientierung bis zur Kommunikation in Risikosituationen und zu Schäden im politischen System reichen. So widersprechen sie dem von verantwortlichen Politikern und Wissenschaftlern vorgebrachten „Handeln unter Unwissenheit“, da die relevanten Informationen bereits Mitte März 2020 vorgelegen hätten. Der von Politikern ausgerufene „Krieg gegen das Virus“ widerspreche modernen Konzepten, „die Epidemien als ein soziales Ereignis verstehen, und steht für ein absolutes, reduktionistisches naturwissenschaftliches Denken“. Die ärztliche und pflegerische Fachkompetenz zu modernen Konzepten von Infektionssteuerung und Präventionsstrategien sei missachtet worden.

Zu den Kritikpunkten gehören auch der Umgang mit der Angst der Menschen und die gezielte Angstmache. Die Bilder von Bergamo und in Modellrechnungen vorausgesagte „Millionen Tote“ stünden „in klarem Kontrast unter anderem zum Obduktionsverbot oder zu der Unfähigkeit, exakte Sterblichkeitszahlen zur Verfügung zu stellen. Der Tod als Menetekel, jeden Abend als Säulengrafik in den Nachrichten verkündet, wurde so sehr übersteigert, dass nicht nur die Bevölkerung in Angststarre verfiel, sondern auch die politische Ebene von ihren eigenen Projektionen eingeholt wurde.“ In der Folge sei planvolles, differenziertes Handeln nicht mehr vorstellbar gewesen, „obwohl es angesichts der Bedrohung ja unabdingbar gewesen wäre“.

Die Experten kritisieren ebenso, dass durch totale Isolierungen und Abschottungen bei pflegebedürftigen Menschen in Krankenhäusern, in stationären Pflegeeinrichtungen oder bei der ambulanten Pflege zu Hause „fundamentale Standards verletzt“ worden seien. Zugleich widersprechen die Autoren der „hohlen Phrase“ von politisch Verantwortlichen, die Gesellschaft sei gut durch die Pandemie gekommen: „Doch besonders Kinder und Jugendliche litten mehr unter den Maßnahmen als unter dem Virus. Die Folgen von Lockdowns und Schulschließungen sind verheerend.“ Wie bei allen anderen Punkten begründen sie das ausführlich.

Dramatische Fehler

„Die in jahrzehntelanger Auseinandersetzung erreichte Ausrichtung des Gesundheitssystems (und der Gesundheitsforschung) am Grundsatz der Patientenorientierung wurde schlagartig zu einem paternalistischen System zurückentwickelt“, ist ein weiterer Kritikpunkt. Und: „Die Erfolge der evidenzbasierten Medizin (EBM) und des auf die Alltagswirksamkeit gerichteten Health Technology Assessment (HTA) wurden im Rahmen der Corona-Maßnahmen nicht genutzt und stattdessen aus der Auseinandersetzung um den Nutzen von Corona-Maßnahmen aktiv verdrängt.“
Die Wissenschaftler und Mediziner beklagen, dass es in der Corona-Krise in der Gesundheitsversorgung und in der Gesundheitspolitik eine Rückkehr zu der Ansicht gegeben habe, „Krisen und Katastrophen könne man mit rein technischen Mitteln ‚bekämpfen‘“. Dadurch seien „dramatische Fehler“ gemacht worden: „So hieß es schon Anfang 2020: Haben wir erst die Impfung, dann wird alles gut.“ Die Impfung sei als „allumfassender Problemlöser“ gesehen und dargestellt worden.

Als „Kardinalfehler“ sehen die Experten den gescheiterten Versuch an, „die Epidemie in Deutschland mit mangelhaften Daten zu steuern“. „Eine Melderate, deren Ergebnisse nicht von der Testfrequenz abgrenzbar sind (Abfall an Weihnachten, Anstieg nach Ende der Ferien), fehlende Kohortenstudien (der epidemiologische Standard), fehlende Daten zu den Risikopopulationen (dafür muss man überhaupt erst mal Interesse aufbringen), die Aufzählung lässt sich unendlich fortsetzen.“ Es sei versäumt worden, die Wissenschaft zu befragen, „aber nicht die genannten ‚üblichen Verdächtigen‘, sondern Experten, die mit der Bekämpfung von epidemischen Situationen wirklich zu tun haben (Infection-Control-Spezialisten, nicht Modellierer)“. Es habe ein Versagen der fachlichen Praxisgrundsätze gegeben, „sozusagen eine Missachtung des Basiswissens“.

Dringender Verdacht

Die Autoren schreiben vom „Verdacht, dass Corona zu anderen politischen Zwecken missbraucht wurde, die man auf anderem Weg lange nicht durchsetzen konnte“. Und weiter: „Ganz im Vordergrund ist die Digitalisierung der Gesundheitsversorgung einschließlich der Marginalisierung der ärztlichen Schweigepflicht zu sehen.“ Durch die dramatisierte Lage sollten Vorbehalte gerade in der Ärzteschaft hinsichtlich Schweigepflicht und der ökonomischen Nutzung der Patientendaten beseitigt werden. Und: „Analog ist das Verhalten von chancenlosen Politikern zu bewerten, die sich nur durch das Skandalisieren der Corona-Krise und unentwegte, penetrante Wortmeldungen die Chance erhoffen konnten, jemals in eine verantwortungsvolle politische Position vorzurücken“, wird mit einem Seitenhieb auf den SPD-Politiker und heutigen Gesundheitsminister Karl Lauterbach festgestellt, ohne ihn zu nennen.

Die Wissenschaftler und Mediziner benennen die mangelnde Vertrauensbildung als weiteren Fehler der politisch Verantwortlichen. So habe gerade der durch die Impfkampagne erzeugte Druck auf die Gesellschaft zu Gegendruck geführt – „eher eine Konsolidierung der Impfskeptiker-Szene, eine Radikalisierung der Ansichten, auf jeden Fall kein Aufeinanderzubewegen“. Frühzeitig sei klar gewesen: „Die zentrale Frage der impfskeptischen Mitbürger bezieht sich auf die Nebenwirkungen der Impfung, gerade weil es sich um ein neues Wirkprinzip handelt und die Studien nur einen kurzen Beobachtungszeitraum umfassten.“ Dabei ist aus Sicht der Autoren völlig nebensächlich, ob Nebenwirkungen vorliegen oder nicht. „Was aber auf keinen Fall passieren darf: ein Ins-Lächerliche-Ziehen, ein Abtun, die Aussage des amtierenden Gesundheitsministers: Es gibt keine Nebenwirkungen.“ Auf die massiven gesellschaftlichen Anfeindungen und Diffamierungen von Kritikern der Impfkampagne gehen sie leider nicht ein.

Die Wissenschaftler und Mediziner kritisieren, dass die dramatisierende Darstellung der Lage ohne Pause fortgesetzt wurde. „Es ist eine der Grunderkenntnisse: Man kann Risiko-‚Alarmierungen‘ nicht endlos aufeinander folgen lassen, ohne zwischendrin Entspannung zu geben. Jede Krise braucht einen Ausgang.“ In ihrer letzten These stellen die Autoren fest: „Die politischen Anreize zu einem angstgetriebenen Pandemiemanagement waren insgesamt zu stark, erwiesen sich allerdings als nicht nachhaltig.“ Zu den langfristigen „Kollateralschäden“ werden ein beschädigter öffentlicher Diskurs und ein großer Verlust an Institutionenvertrauen gezählt.

Bewusste Irreführung

Ende Juni haben die Wissenschaftler und Mediziner sich erneut mit einem offenen Brief zu Wort gemeldet. Die aktuelle gesellschaftliche Debatte um Folgen einer Covid-Infektion („Long Covid“) und die Folgen beziehungsweise Nebenwirkungen der millionenfach injizierten gentherapeutischen Stoffe gegen Covid-19 („Post-Vac“) lassen sie – bisher– außer Acht.

Vieles, was derzeit unter „Long Covid“ eingeordnet wird, könnte besser als psychosomatische Folgen der Lockdowns und der Corona-Maßnahmen gedeutet werden – das meinen Kritiker wie der Arzt Gunter Frank. Er schreibt in seinem Buch „Das Staatsverbrechen“ über die Corona-Krise von einem „Long-Lockdown-Long-Masken-Syndrom“. Er bezeichnet es als „völlig absurd“, wenn „das enorm gesteigerte Auftreten gesundheitlicher Probleme im Rahmen der Covid-Impfkampagne von den Verantwortlichen der Corona-Politik umgedeutet wird in: Long-Covid-Probleme nach einer Impfung“. Es handele sich um „bewusste Irreführung, denn die Ursachen der Post-Vac-Beschwerden sind durch die verschiedenen krankhaften Wirkungen der mRNA-Impfstoffe gut erklärbar“.

Die Zahl der Betroffenen ist unbekannt: „Menschen, die vor wenigen Monaten noch inmitten der Gesellschaft verankert waren; die sich für sich und – wie es damals vermutlich zu oft geheißen hatte – auch für andere hatten impfen lassen oder die unter die einrichtungsbezogene Impfpflicht fielen“, wie es kürzlich in einem Beitrag in der Onlineausgabe des Magazins „Cicero“ hieß. Die Dimensionen macht unter anderem deutlich, dass laut Europäischer Arzneimittel-Agentur (EMA) im März dieses Jahres 42 Mal mehr gemeldete Nebenwirkungen bei Covid-Impfstoffen als bei klassischen Influenza-Impfstoffen verzeichnet wurden.

Fehlende Forschung

Der Berliner Hausarzt Erich Freisleben hat allein 200 solcher Fälle in seinem Buch „Sie wollten alles richtig machen“ und auf seiner Webseite dokumentiert. Die im März 2023 von Gesundheitsminister Lauterbach versprochenen Hilfen für mRNA-Geschädigte seien nicht gekommen, heißt es in „Cicero“. Stattdessen würden nur die Erforschung des Long-Covid-Syndroms sowie die Versorgung der davon Betroffenen mit 40 Millionen Euro gefördert. Die zuvor versprochenen 100 Millionen Euro für das Long-Covid-Programm des Bundesgesundheitsministeriums fielen dem Sparzwang oder besser der Aufrüstung zum Opfer.

Auch diese Folge der Corona-Krise harrt einer gründlichen Aufarbeitung. Von Regierungsseite unterbleibt – wie seit März 2020 – eine begleitende umfassende Forschung. Dabei wäre eine solche gerade angesichts der Tatsache notwendig gewesen, dass millionenfach neuartige und nicht auserprobte Stoffe gegen Covid-19 gespritzt worden sind. Für die Impfkampagne wurden Milliarden ausgegeben, ebenso für alle anderen Maßnahmen der Corona-Politik. Für diejenigen, die darunter leiden, ist nun kaum Geld da.

Die Geschädigten sind – anders als die Pharmakonzerne und die politisch Verantwortlichen – ohne Lobby. Hinzu kommt bei den Impfnebenwirkungen und -schäden das Schweigen der meisten Ärzte. Und: „Die Weigerung der Forschung, dieses Problem, das sie selbst verursacht hat, ernst zu nehmen und an Lösungen zu arbeiten, ist ein weiteres beschämendes Zeichen eines umfassenden Medizinversagens in der Corona-Krise“, stellt der Arzt Frank in seinem Buch fest. Er hebt hervor: „Hinter dem verantwortungslosesten medizinischen Großexperiment der Menschheitsgeschichte steckt die blinde Gier nach Geld. Der Corona-Slogan ‚Follow the science‘ bedeutet in Wirklichkeit Follow the money.“ Es gibt keine Anzeichen, dass sich das ändert.

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"Systemversagen", UZ vom 4. August 2023



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