Vor 50 Jahren starb Ho Chi Minh. Was Kommunisten auch heute von ihm lernen können

Symbol des Antiimperialismus

Von Hannes Fellner

Ho Chi Minh wurde am 19. Mai 1890 in der ländlichen Dorfgemeinde Kim Lien (Nam-Dan-Distrikt der Provinz Nghe An) im nördlich-zentralen Vietnam als Nguyen Sinh Cung geboren. Drei Jahre vor seiner Geburt hatte sich Frankreich die Regionen des heutigen Vietnam, Laos und Kambodscha als Kolonie Indochina einverleibt. Zwar regierte nominell die einheimische Nguyen-Dynastie in konfuzianischer Tradition von der Kaiserstadt Hue aus über Zentral- (An Nam) und Nordvietnam (Tonkin). De facto aber hatte die Kolonialmacht Frankreich das Sagen, wie ganz offiziell in Südvietnam (Cochinchina).

Antikoloniale Ideen

Ho Chi Minhs Eltern entstammten bäuerlichen, aber gebildeten Familien. Sein Vater war ein konfuzianischer Gelehrter, Lehrer und kurzzeitig niederer Beamter, der wie viele andere Intellektuelle die Kolonialherren und ihr Marionettenregime ablehnte. Durch das Umfeld seiner Eltern erlangte Ho Chi Minh in sehr jungen Jahren nicht nur schon eine solide Bildung, sondern kam auch früh in Kontakt mit antikolonialen Ideen. Durch einen Verwandten seiner Mutter erfuhr er vom Gelehrten und Guerillero Phan Dinh Phung (1847 – 1896), einer der wichtigsten Gestalten des antikolonialen Kampfes jener Zeit. Durch seinen Vater lernte er Phan Boi Chau (1867 – 1940) kennen, einen von Sun Yat-sen (1866 – 1925) inspirierten Kopf der nationalen Unabhängigkeitsbewegung Vietnams zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Er wurde Schüler im französisch-vietnamesischen Elitegymnasium Quoc Hoc in Hue, einer Schule, die unter anderen auch von seinen zukünftigen Kampfgefährten Pham Van Dong (1906 – 2000), dem späteren Premierminister, und Vo Nguyen Giap (1911 – 2013), dem späteren genialen Strategen und Befehlshaber der Befreiungs- und Volksarmee sowie Vize-Premier und Verteidigungsminister Vietnams, besucht wurde. Zu dieser Zeit beteiligten er und seine Familie sich an antikolonialen Protesten, was Repressionen zur Folge hatte.

„Der Patriot“ und Versailles

Im Jahr 1911 heuerte Ho Chi Minh als Küchengehilfe auf einem französischen Schiff an. Die nächsten acht Jahre arbeitete er auf unterschiedlichen Schiffen auf fast allen Kontinenten. Er lebte kurze Zeit in England und in den USA, wo er zwar mit afroamerikanischen und panafrikanischen Aktivisten in Kontakt war, aber dennoch zur Überzeugung gelangte, dass die Vereinigten Staaten langfristig kein Partner im Kampf gegen den Kolonialismus sein konnten.

Ab 1919 lebte er in Frankreich und war im Umfeld der dortigen antikolonialen vietnamesischen Gemeinde um Phan Chau Trinh (1871 – 1926) wie dem der französischen Sozialistischen Partei tätig. Die Gruppe um Phan Chau Trinh hatte unter dem kollektiven Pseudonym Nguyen Ai Quoc (Nguyen „der Patriot“) Artikel gegen das französische Kolonialregime geschrieben. Vor der Friedenskonferenz von Versailles richteten Phan Chau Trinh und Ho Chi Minh unter diesem Pseudonym die Petition „Die Forderung des vietnamesischen Volkes“ an die Führer der Alliierten. Das Dokument mit seinen eher moderaten Forderungen – so war von nationaler Unabhängigkeit darin nicht einmal die Rede – fand in Versailles freilich keinerlei Berücksichtigung, machte aber Ho Chi Minh, der nun den Namen Nguyen Ai Quoc annahm, zum Gesicht des vietnamesischen Widerstandes gegen den französischen Kolonialismus.

Mit Lenin

Im Jahr 1920 nahm Ho Chi Minh als Delegierter des Kongresses der Sozialistischen Partei in Tours teil und gehörte dort zu jener Mehrheit, die für den Anschluss an Lenins 3. Internationale plädierte und die Kommunistische Partei Frankreichs gründete. Er wurde Teil des Kolonialkomitees der Partei, erkannte aber in der KPF bald einen gewissen Mangel an Aufmerksamkeit beziehungsweise ein Desinteresse gegenüber der Sache der von Frankreich unterdrückten Völker.

Es folgten einige Jahre in der Sowjetunion, wo er an der Kommunistische Universität der Werktätigen des Ostens studierte, für die Komintern arbeitete und an deren 5. Weltkongress teilnahm. Von 1924 bis 1926 unterrichtete er unter dem Namen Ly Thuy in Kanton (Guangzhou) vietnamesische Studierende unter anderem an der von Sun Yat-sen gegründeten und gemeinsam von der Guomindang und der Kommunistischen Partei Chinas mit Hilfe der Sowjetunion betriebenen Whampoa-Militärakademie. In Kanton erfolgte auch die Gründung der Vietnamesischen Revolutionären Jugendassoziation (Thanh Nien), die den bewaffneten Kampf gegen die französische Kolonialherrschaft ideologisch und militärisch führen wollte und sollte.

Neue Partei

Nach dem antikommunistischen Putsch Chiang Kai-sheks in China kehrte Ho Chi Minh 1927 nach Moskau zurück und wurde der Hauptbeauftragte der Komintern für Südostasien, das er zu dieser Zeit so wie China immer wieder bereiste. Im Jahr 1930 war Ho Chi Minh in Hongkong maßgeblich an der Vereinigung unterschiedlicher marxistischer Gruppen zur Kommunistischen Partei Indochinas beteiligt. Dort geriet er für beinahe zwei Jahre in Haft.

Die KPIC genoss trotz ihrer nur 1 500 Mitglieder große Sympathie in der arbeitenden Bevölkerung. Nach einer rebellischen 1.-Mai-Parade in Vinh, welche die Franzosen blutig niederschlugen, wurden die führenden Kader der Partei exekutiert oder verhaftet.

Nach seiner Gefangenschaft kehrte Ho Chi Minh 1933 nach Moskau zurück, studierte und lehrte an der Internationalen Lenin-Schule in Moskau und arbeitete weiter in der Führung der Komintern. Ende der 1930er Jahre ging er als Hauptverantwortlicher der Komintern für Asien als Berater der kommunistischen Kräfte nach China und nahm schließlich den Namen Ho Chi Minh (Ho „dessen Wille klar ist“) an.

Klassenkampf für Souveränität

Nach anhaltender brutaler Repression gegen die KPIC und der Besetzung Indochinas durch japanische Truppen ging Ho Chi Minh 1941 zurück nach Vietnam und formierte die Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Viet Minh) zusammen mit Pham Van Dong, Vo Nguyen Giap und Le Duan (1907 – 1986), dem späteren Generalsekretär der Kommunistischen Partei Vietnams. Als einzige organisierte Widerstandsbewegung gegen die japanischen Besatzer und das französische Kolonialregime in Vietnam verfolgte die Viet Minh eine breite Volksfront und mit militärischer Unterstützung aus der Sowjetunion und China eine erfolgreiche Volkskriegsstrategie. Bei einer Reise nach China, um weitere Militärhilfe zu vereinbaren, wurde Ho Chi Minh von Guomindang-Behörden verhaftet, für mehr als ein Jahr unter widrigen Bedingungen eingesperrt und nach seiner Haft weiterhin festgesetzt. Auch ohne Ho Chi Minh gelangen der Viet Minh viele Erfolge, auch auf militärischem Gebiet maßgeblich angeleitet von Vo Nguyen Giap.

Die von Ho Chi Minh federführend etablierten Konzepte, mit denen die Viet Minh im ganzen Land Erfolg hatten, bauten auf den besonderen historischen, ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten Vietnams auf: die Verknüpfung von nationaler Befreiung und sozialer Frage; einem sich darauf stützenden breiten gesellschaftlichen Bündnis verschiedener unterdrückter Schichten – insbesondere der proletarischen und bäuerlichen Bevölkerung; breite Bildungs- und ideologische Arbeit; die Bereitschaft, den Menschen aufopferungsvoll in allen Belangen des Lebens beizustehen und mit gutem Beispiel voranzugehen.

Onkelhafter Krieger

Nach der Kapitulation Japans im August 1945 gelang der Viet Minh, gestützt auf unzählige Volkskomitees im ganzen Land, mit der Augustrevolution die Übernahme der Macht. Am 2. September 1945 rief Ho Chi Minh in Hanoi als Präsident einer provisorischen Regierung die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam aus.

Jedoch begann Frankreich sich mit britischer Unterstützung wieder eine Position in Vietnam zu verschaffen. Ho Chi Minh verhandelte für die provisorische Regierung mit Frankreich. Mit der charismatischen Mischung aus standhaftem antikolonialem Guerillero, pfiffigem Gelehrten und onkelhaftem Vater der vietnamesischen Nation begann er in Paris auch die westliche Öffentlichkeit für sich und die Sache seines Volkes einzunehmen. Die Gespräche scheiterten aber trotz weitreichender Flexibilität auf vietnamesischer Seite, weil Frankreich an seiner kolonialen Position festhielt, seine Kolonialpräsenz in Vietnam wieder ausbaute und mit brutaler Gewalt gegen die antikoloniale Stimmung und die provisorische Regierung im Land vorzugehen begann. Das markierte den Beginn des (ersten) Indochina-Krieges (1946 – 1954).

Die Viet Minh war nicht unvorbereitet, zog sich auf das Land und in die Berge zurück und startete einen Guerillakrieg gegen die militärisch überlegenen französischen Besatzer. Gleichzeitig versuchte Ho Chi Minh vergebens, diplomatische Kanäle für eine Ende der Feindseligkeiten offenzuhalten.

Hilfe aus China und der Sowjetunion

Mit der erfolgreichen Revolution in China 1949 begann sich die militärische Lage für die Viet Minh zu verbessern. Auch weltpolitisch war man in einer besseren Situation, weil Moskau und Peking die Regierung von Ho Chi Minh 1950, als der Kalte Krieg schon begonnen hatte, offiziell anerkannten. Die Viet Minh wurden jetzt auch mit militärischem Gerät, Ausbildung, Logistik sowie den erprobten Kriegsstrategien der Kommunistischen Partei Chinas unterstützt. Als Teil ihrer kollektiven Führung spielte Ho Chi Minh im Untergrund eine herausragende Position in der politischen Organisation und militärischen Führung der Viet Minh. Daneben koordinierte er die sowjetisch-chinesische Hilfe, war unermüdlich diplomatisch tätig, spielte aber auch eine gewichtige Rolle an der Front sowie im Aufbau ziviler Infrastruktur, insbesondere von Bildungseinrichtungen, in den befreiten Gebieten. So konnte die Viet Minh ihren Einfluss in ganz Vietnam ausbauen und viele kleine Siege erringen.

Der große Sieg und der Wendepunkt des Krieges folgte mit der von Vo Nguyen Giap konzipierten legendären Schlacht von Dien Bien Phu 1954. Die Kolonialmacht Frankreich war geschlagen und musste sich ganz aus Indochina zurückziehen. Das Genfer Abkommen erkannte die Demokratische Republik Vietnam im Norden an. Für den Süden Vietnams, wo vom Westen – historische Unterschiede zwischen den Regionen ausnutzend – eine prowestliche Regierung installiert worden war, wurde ein Rückzug der Viet Minh vereinbart, aber anschließende Wahlen in einem vereinigten Vietnam in Aussicht gestellt. Diesem Vorhaben stellten sich antikommunistische Politiker bereits mit außerordentlicher Unterstützung der USA entgegen und begannen eine breitangelegte Repressionskampagne gegen Anhänger eines vereinigten Vietnams. Damit begann der Vietnamkrieg (1955 – 1975).

Wo er gebraucht wurde

Wieder spielte Ho Chi Minh eine zentrale Rolle bei den diplomatischen Bemühungen und der Organisation des Widerstandes im Süden, nicht zuletzt nach dem Beginn des Zerwürfnisses im sozialistischen Lager. Geschickt schaffte er es, Vietnam aus den Streitigkeiten herauszuhalten und Hilfe sowohl von China als auch der Sowjetunion sicherzustellen.

Den fingierten Tonkin-Zwischenfall nahmen die USA 1964 zum Anlass eines großangelegten Krieges gegen ganz Vietnam. Zwar hatte Ho Chi Minh seine Funktionen 1960 in der Partei niedergelegt, war aber als Präsident immer noch Teil der kollektiven Führung, die den heroischen Widerstand eines ganzen Volkes gegen die imperialistischen Aggressoren und ihre Handlager organisierten. Auch als älterer Herr besuchte er Frontabschnitte, bereiste das Land, sprach den Menschen Mut zu, half, wo er gebraucht wurde. So wurde er mit seiner bescheidenen Art – in Hanoi lebte er in einer traditionellen Hütte neben dem Präsidentenpalast –, seinem unerschütterlichen Siegeswillen und seinem hingebungsvollen Einsatz ein leuchtendes Symbol für den Kampfgeist Vietnams und den antiimperialistischen Widerstand des Trikonts. 1968 erlebte er noch die verlust-, aber erfolgreiche Tet-Offensive, die den Sieg Vietnams über den US-Imperialismus einzuläuten begann. Die Befreiung seines Landes erlebte Ho Chi Minh nicht mehr. Er starb am 2. September 1969 im Alter von 79 Jahren an Herzversagen. Als „Vater der Nation“, Bac Ho (Onkel Ho),  wurde er – entgegen seinem Willen – einbalsamiert und in einem Mausoleum in Hanoi bestattet, dessen Besuch für Vietnamesen auch heute noch nicht einfach Pflichterfüllung, sondern eine Herzensangelegenheit ist.

Fest und flexibel

Ho Chin Minh ist welthistorisches Individuum und eine der bedeutendsten kommunistischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Gerade heute, in Zeiten sich verschärfender imperialistischen Konkurrenz und wiederkehrender kolonialer Unterjochung, lohnt sich eine Beschäftigung mit Ho Chi Minhs Werk und Wirken. Seine Lenin-gleiche ideologische Festigkeit bei gleichzeitiger Flexibilität und Pragmatismus bei der Durchsetzung taktischer und strategischer Ziele, vor allem in Bündnisfragen, macht ihn zu einem Vorbild für erfolgreiche kommunistische Politik. Seine Verknüpfung des Reflektierens nationaler Ausgangsbedingungen mit der sozialen Frage und dem internationalen antiimperialistischen Kampf sollte auch heute wieder Maßstab für fortschrittliche Politik sein. Schließlich steht Ho Chi Minh auch symbolisch für den glorreichen Kampf seines Volkes gegen übermächtig scheinende Gegner und deren schließliche Bezwingung durch Ausdauer, Hartnäckigkeit und Kampfeswillen. Genau dies sollte uns heute mehr denn je Ansporn und Auftrag sein, dem Imperialismus „zwei, drei, viele Vietnams“ zu (ver)schaffen. 

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"Symbol des Antiimperialismus", UZ vom 30. August 2019



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