Europa wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von zahlreichen Revolutionen und Umwälzungen erschüttert. Die Revolutionen von 1848 mit Aufständen in Frankreich, Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien forderten politische Reformen, nationale Selbstbestimmung und zeigten die wachsenden Spannungen zwischen konservativen Monarchien und von der Bourgeoisie geführten Bewegungen. Bewegungen wie das italienische Risorgimento prägten die europäische Politik nachhaltig. Italien und Deutschland erreichten 1871 schließlich nationale Einheit. Rasche Industrialisierung brachte eine wachsende Arbeiterbewegung hervor, die in der Pariser Kommune von 1871 einen frühen Höhepunkt fand.
Kampf um die italienische Einheit
Antonio Gramsci argumentierte, dass das Risorgimento von einem Bündnis der Eliten und der liberalen Bourgeoisie dominiert wurde, die eine wirkliche Volksrevolution verhinderte, die auf tiefgreifende Reformen abgezielt hätte. Stattdessen einten die Eliten Italien so, dass die bestehenden Machtstrukturen, insbesondere die des Landadels, weitgehend bewahrt blieben. Die Kontrolle ging lediglich von der alten Aristokratie auf die liberale Bourgeoisie über, ohne wesentliche Veränderungen für die Massen. Für die verarmten Schichten, insbesondere im Süden des Landes, wirkten die Versprechen nationaler Befreiung hohl. Komponisten wie Giuseppe Verdi unterstützten direkt die radikalen Kräfte des Risorgimento, einschließlich Giuseppe Garibaldi.
Verdis Karriere fiel mit dem Risorgimento zusammen, was sich auch in seinen musikalischen Innovationen zeigte. Opern wie „Nabucco“ (1842) wurden zu Symbolen des Widerstands gegen Fremdherrschaft. Der berühmte „Va, pensiero”-Chor aus „Nabucco“ wurde zu einer Hymne der italienischen Nationalbewegung. Verdi wurde zu einem patriotischen Symbol und sein Name wurde mit der Einigungsbewegung in Verbindung gebracht – „Viva VERDI“ stand für „Viva Vittorio Emanuele Re D’Italia“ (Es lebe Viktor Emanuel, König von Italien), ein Aufruf zur Vereinigung. Verdis Engagement für politische und soziale Themen, sowohl in seinen Opern als auch im persönlichen Leben – er war Abgeordneter des ersten italienischen Parlaments nach der Einigung – stellte ihn ins Zentrum der revolutionären Veränderungen, die Italien umgestalteten.
Aufstieg des Realismus
Die gesellschaftlichen Kämpfe im späten 19. Jahrhundert gingen mit dem Aufstieg des Realismus und Naturalismus in Literatur und Kunst einher. Künstler wie Zola oder Courbet widmeten sich in ihren realistischen Werken dem Leben der Arbeiter. Dieser neue Realismus beeinflusste den „Verismo“, einen Stil, der eine Zeit lang die italienische Oper dominierte und sich durch den Fokus auf Alltagssituationen auszeichnete. Während Puccini nicht strikt mit dem „Verismo“ verbunden wird, wurde er doch von ihm angeregt.
Giacomo Puccini wurde 1858 in Lucca, Toskana, geboren. Er wuchs in einer Zeit des Umbruchs auf, geprägt von wachsendem Nationalbewusstsein und dem Streben nach einer einheitlichen italienischen Identität, was sich auch in Kultur und Kunst widerspiegelte. Familie Puccini hatte eine lange Tradition als Kirchenmusiker und lebte bescheiden, doch nicht in Armut. Wie viele Teile der Toskana litt auch Lucca nach der Vereinigung unter wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Puccinis Umfeld prägten. Als er in den 1880er Jahren in Mailand Musik studierte, war er auf Stipendien und Mäzene angewiesen. Mailand, eine der am stärksten industrialisierten Städte Italiens, war zu einem Zentrum wachsender sozialistischer und Arbeiterbewegungen geworden. Puccini war nicht direkt in diese Bewegungen involviert, doch er war sich des zunehmenden sozialen Unmuts bewusst, was die marginalisierten und ausgebeuteten Figuren in seinen späteren Opern beeinflusste.
Puccini distanzierte sich von der Politik und sagte: „Ich liebe die kleinen Dinge und ich kann und will nur die Musik der kleinen Dinge machen, wenn sie wahr, leidenschaftlich und menschlich sind, zu Herzen gehen.” Doch trotz seiner politischen Zurückhaltung spiegeln Puccinis Werke die Gesellschaft und die historische Zeit wider, in der er lebte.
Puccini, 45 Jahre jünger als Verdi, lebte in einer Zeit, in der Italien bereits geeint war. Während seine Werke oft soziale und politische Themen ansprachen – etwa die Unterdrückung durch einen Polizeistaat in „Tosca“ –, blieb er im Vergleich zu Verdi weitgehend unpolitisch. Sein Fokus lag auf intimen menschlichen Dramen statt auf großen politischen Kämpfen. In verschiedenen globalen Schauplätzen angesiedelt und mit Figuren aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten und marginalisierten Gruppen, üben Puccinis Opern eine subtile Kritik an der Klassengesellschaft, Machtmissbrauch und der Unterdrückung von Frauen.
Opern wie „La Bohème“ und „Madame Butterfly“ spiegeln seine Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen wider, insbesondere durch ihren Fokus auf die Kämpfe der Unterdrückten, während „Tosca“ explizit politische Themen anspricht. Seine realistischen Darstellungen persönlicher und gesellschaftlicher Konflikte sind emotional kraftvoll und unterstreichen seine Sensibilität für menschliche Erfahrungen. Das Schicksal von Frauen, die in vielen seiner Opern die Titelrollen einnehmen, steht häufig im Mittelpunkt.
Verdi hingegen war ein revolutionärer Geist, der sowohl die Form als auch den Inhalt der Oper radikal veränderte. Er wandte sich zunehmend von konventionellen Strukturen ab und durchdrang seine Werke mit Drama, Realismus und psychologischer Komplexität. Während Puccini der Oper einen gesteigerten emotionalen Realismus hinzufügte, stellte er die Kunstform nicht so grundlegend infrage oder transformierte sie, wie Verdi das tat.
Auf dem Höhepunkt seines Ruhms erhielt Puccini lukrative Angebote aus den USA, wo er „Das Mädchen aus dem goldenen Westen“ komponierte, eine Westernoper über den Goldrausch. Doch seine Zeit dort führte zu einer Schaffenskrise, da er mit den kommerziellen Zwängen der US-Opernszene zu kämpfen hatte. Erst nach seiner Rückkehr nach Italien fand er wieder zu seiner künstlerischen Form zurück.
Puccini starb am 29. November 1924 in Brüssel, bevor er seine letzte Oper, „Turandot“, vollenden konnte. Die meisten der weltweit führenden Opernhäuser führen mindestens eine seiner Opern ständig im Repertoire.
„La Boheme“ …
Puccinis vielleicht bekannteste Oper und eine der meistgespielten im Repertoire, „La Bohème“, schildert das Leben von Pariser Künstlern und den städtischen Armen am Rande der Gesellschaft. Die Oper betont die wirtschaftliche Not und Instabilität der „Bohemiens“, die von der Hand in den Mund leben, Vermieter meiden und versuchen, ihre Würde in einer Gesellschaft zu bewahren, die ihrer Not gleichgültig gegenübersteht. Implizit kritisiert sie eine bürgerliche Gesellschaft, die diejenigen marginalisiert, die nicht den kapitalistischen Vorstellungen von Produktivität entsprechen. Durch die eng miteinander verflochtenen Leben legt das Leiden der Figuren die brutalen Realitäten von Klasse und Macht offen.
… „Madame Butterfly“ …
„Madame Butterfly“ (1904) reflektiert den westlichen Imperialismus und seine verheerenden Auswirkungen auf die kolonisierten Völker. In Japan angesiedelt, erzählt die Oper die tragische Geschichte der 15-jährigen Japanerin, Cio-Cio-San, die von ihrem US-amerikanischen Liebhaber verlassen und betrogen wird. Dieser in Japan weilende Marineoffizier illustriert die „Öffnung“ Japans für westlichen Handel und Einfluss. Obwohl das Werk für seine orientalistische Darstellung Japans kritisiert wurde, kann es auch als Anklage gegen die ausbeuterische und entmenschlichende Natur weltweiter US-amerikanischer Expansion verstanden werden. Butterflys tragisches Schicksal spiegelt die Erfahrungen unzähliger kolonialisierter Menschen, die von imperialen Mächten manipuliert und dann fallen gelassen wurden.
… „Turandot“ …
Puccinis letzte Oper, „Turandot““ (1926), spielt in einer fantasievollen Version des alten China. Doch sie kann ebenso als Kritik an autokratischer Herrschaft und den inhumanen Auswirkungen rigider, hierarchischer Systeme gelesen werden. Die gefühllose Prinzessin Turandot, die ihre Freier hinrichten lässt, wenn sie ihre Rätsel nicht lösen können, verkörpert brutale Machtstrukturen, die bestrafen und unterwerfen.
… und „Tosca“
„Tosca“ (1900) ist seine dramatisch intensivste und politisch brisanteste Oper. Vor dem Hintergrund politischer Unruhen und revolutionärer Bewegungen in Italien behandelt sie Widerstand und politische Unterdrückung.
Die Oper spielt in Rom während der Napoleonischen Kriege, als der Konflikt zwischen Republikanismus und monarchischer Herrschaft eskalierte. Rom stand damals unter der Kontrolle reaktionärer Kräfte, die der österreichischen Monarchie und dem Kirchenstaat treu ergeben waren, während Napoleons Armee revolutionäre Ideale wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit verbreitete.
Mario Cavaradossi ist Maler und Anhänger der republikanischen Ideale, hilft dem entflohenen politischen Gefangenen Cesare Angelotti, der vor dem skrupellosen Polizeichef Baron Scarpia, Symbol staatlicher Unterdrückung, flieht. Der Konflikt zwischen den republikanischen Rebellen (Cavaradossi und Angelotti) und den monarchischen Kräften (Scarpia) spiegelt den größeren politischen Kampf zwischen revolutionären Idealen und reaktionärer Tyrannei wider – ein Kampf, der die italienische politische Landschaft zur Zeit Puccinis prägte.
Das Libretto, basierend auf einem Drama des französischen Dramatikers Sardou, greift auf historische Ereignisse rund um den Fall der Italienischen Republik zurück, die nach dem Vorbild der Französischen Republik gegründet und von reaktionären Kräften zerschlagen wurde. Puccinis Sympathie für die Widerstandskämpfer zeigt sich besonders im zweiten Akt, wenn Cavaradossi, als er von Napoleons Sieg erfährt, triumphierend ausruft: „Viktoria! Viktoria! / Der siegreiche Tag erscheint, / der die Schufte erzittern lässt! / Die Freiheit erhebt sich / gegen die Tyrannei!“ Selbst Sardou gab zu, dass die Oper sein Stück in emotionaler Intensität übertraf.
Puccini komponierte die Oper 1898 und 1899. „Tosca“ folgt den Prinzipien des „Verismo“, doch Puccinis kluger Einsatz von Leitmotiven, spannungsgeladenen Harmonien und komplexen musikalisch-dramatischen Szenen zeigt auch den Einfluss Richard Wagners. Das Orchester spielt eine zentrale Rolle und entfaltet sich unter den Stimmen, die nahtlos zwischen Rezitativ und Arie wechseln.
Musikalisch spiegelt Puccini die politischen Spannungen der Oper wider, indem er jeder Figur eine eigene musikalische Sprache zuweist, die ihre Stellung im politischen Konflikt betont. Scarpias Thema basiert auf düsteren, unheilvollen Intervallen und absteigenden chromatischen Linien, die seine autoritäre und brutale Natur unterstreichen. Die bedrohliche Orchestrierung, besonders durch den Einsatz der Blechbläser, verstärkt diesen Eindruck. Ein weiteres Beispiel für Puccinis subtile politische Kritik ist der Einsatz von Kirchenmusik, wie dem „Te Deum“ am Ende des ersten Akts. Diese Musik setzt die Szene und kritisiert gleichzeitig die politische Macht der Kirche als Instrument der Unterdrückung, da Scarpia seine brutalen Absichten über die sakrale Musik hinweg artikuliert.
Cavaradossis Musik hingegen spiegelt dessen revolutionären Geist wider. Seine lyrischen, weit ausladenden Melodien, oft aufsteigend und heroisch, verbinden ihn mit den Idealen von Freiheit und Unabhängigkeit. Seine Arie „Viktoria! Viktoria!“ im zweiten Akt, in der er den Sieg Napoleons feiert, wird von triumphalen Orchesterfanfaren begleitet.
Tosca’s Charakter entwickelt sich von Verletzlichkeit zu Widersetzlichkeit. Ihre berühmte Arie „Vissi d’arte“ im zweiten Akt drückt Leid und Verzweiflung aus, als sie sich fragt, warum sie leiden muss, obwohl sie ihr Leben der Kunst und der Liebe gewidmet hat. Die einfache, lyrische Melodie steht im scharfen Kontrast zur brutalen und repressiven Welt um sie herum. Als Tosca Scarpia später ersticht, verkörpert die dissonante Musik den Bruch mit der Tyrannei. Sanftere Orchestrierung folgt, als Tosca Scarpias Leichnam herrichtet, was ihren vorübergehenden Triumph über die Unterdrückung andeutet.
Im letzten Akt kontrastiert Puccini Hoffnung mit der Realität politischer Unterdrückung. Cavaradossis Abschiedsarie, als er auf seine Hinrichtung wartet, ist eine melancholische Reflexion über die schwindende Hoffnung auf Freiheit. Die absteigende Melodie, gepaart mit der düsteren Orchestrierung, betont die persönlichen Kosten des revolutionären Kampfes und schafft eine Atmosphäre unausweichlichen Untergangs.
„Tosca“ ist eine zutiefst politische Oper, eingebettet in den revolutionären Kontext ihrer Zeit. Puccini gelingt es, durch seinen meisterhaften Einsatz von Leitmotiven, Orchestrierung und dem Zusammenspiel von persönlichen und politischen Konflikten diese revolutionären Themen musikalisch eindringlich zu vermitteln. Der Kampf zwischen Tyrannei und den Idealen der Freiheit reflektiert die größeren politischen Auseinandersetzungen, des Risorgimento und der Revolutionen, welche das moderne Italien und Europa prägten und bis heute an Gültigkeit nicht verloren haben.