„Das ist alles eine Farce!“, brach es aus Esther Bejarano heraus. „Er hat alles gesehen, er hat alles gewusst!“ Am 9. Dezember 2019 hatte die Überlebende der KZ Auschwitz und Ravensbrück einer Verhandlung im Stutthof-Prozess beigewohnt.
Heute ist das Urteil im vielleicht letzten NS-Prozess gesprochen worden. Das Gericht sprach den Angeklagten schuldig. Das Strafmaß: zwei Jahren auf Bewährung unter Berücksichtigung seiner Jugend zur Tatzeit bei Übernahme der eigenen Prozesskosten, z. B. für seine Verteidigung. Bruno Dey muss nun wohl nicht im hohen Alter ins Gefängnis, das ist im Sinne vieler Nebenklägerinnen und Nebenkläger, die das immer wieder betont haben.
Das Gericht definierte aber auch eine neue Form der Schuld: Jeder Bewacher hat gesehen, dass die in die Konzentrationslager Verschleppten schon beim ersten Betreten der Vernichtungslager todgeweiht waren. Die Richterin stellte fest, dass Bruno Dey seine Schuld verdrängt und gelogen hat. Und selbst in seinem letzten Wort hat er seine Schuld nicht anerkannt, er schien nur Beobachter zu sein. Wie war es möglich, dass er das Leiden sah, aber nicht berührt war, wie konnte er Menschlichkeit und Gewissen ausschalten und sich an das Grauen gewöhnen?
„Ganz normale Menschen in Deutschland haben das ganz normalen Menschen angetan – wegen eines Befehls.“ Befehle wie diese dürfen nicht befolgt werden, dagegen müsse man sich stellen, auch wenn es das eigene Leben gefährdet. „Es war falsch und ein furchtbares Unrecht. Sie hätten nicht mitmachen dürfen. Sie hätten sich entziehen müssen.“ Und die Richterin mahnte: „Wehret den Anfängen.“ Dort, wo Unrecht geschieht, dürfe man nicht gehorchen. Und Bruno Dey habe den Massenmord mit eigenen Augen sehen können.
Die Gewissenlosigkeit habe damals ein ganzes Volk erfasst. Auch der Angeklagte habe sich an seinen Wachdienst im KZ schnell angepasst. Er klagte über die Eintönigkeit des Dienstes, er geriet nicht in einen Gewissenskonflikt, er litt nicht. Er befolgte einfach nur die Befehle. Aber der Befehl befreie ihn nicht von seiner Schuld, auch nicht mit damals 18 Jahren.
Eine echte Gefühlsregung oder eine wirkliche innere Betroffenheit habe man nicht bei dem Angeklagten feststellen können.
„Nur durch Ihre Hilfe konnte der grausame Massenmord durchgeführt werden. (…) Die Wachtürme waren so nah dran, dass Sie alles sehen konnten, alles riechen konnten.“ Und weiter: „Wie lässt sich Schuld messen, an der sich Tausende, Millionen beteiligt haben?“
Zur Rolle der Nebenklägerinnen und Nebenkläger betonte die Richterin, dass sie überlebt hätten, um Zeugnis abzulegen über das, was geschehen war. Erstmals wurden in diesem Prozess auch schriftliche Aussagen von Zeugen und Nebenklägern zugelassen waren. Das Gericht habe den erschütternden Aussagen zugehört und sei damit objektiv ein Stück über die Anklage hinausgegangen.
Vor dem Urteil. Der Prozess gegen Bruno Dey, die deutsche Justiz und wir heute
Im Hamburger Prozess gegen einen ehemaligen SS-Wachmann des KZ Stutthof hat der Verteidiger einen Freispruch verlangt. Aus damaliger Sicht sei der Wachdienst kein Verbrechen gewesen, man könne seinen Mandanten nicht für die dort verübten Morde mitverantwortlich machen. Dem angeklagten 93-jährigen Bruno Dey wird Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen vorgeworfen. Der Staatsanwalt hatte in seinem Plädoyer eine Jugendstrafe von drei Jahren Haft gefordert. Das Urteil soll am 23. Juli 2020 verkündet werden.
Ein Angeklagter, der sich nicht erinnern wollte. Der im KZ nach eigener Aussage doch nur seinen Dienst getan hatte, der sich sein Alter nach einem arbeitsreichen Leben ganz anders vorgestellt hatte.
Bundesdeutsche Gerichte, die viele Jahrzehnte lang unwillig waren, NS-Verbrechen zu verfolgen. Erst das Urteil im Demjanjuk-Verfahren 2011 zum Vernichtungslager Sobibór brachte eine Wende: Jeder Wachdienst in Konzentrationslagern galt nun als Beihilfe zum Mord. Der Bundesgerichtshof hatte jahrzehntelang gefordert, ganz konkrete Einzeltaten nachzuweisen. Zuvor wurden die Wachmannschaften lediglich als Zeugen vernommen oder deren Verfahren wegen geringer Schuld eingestellt. Die Millionen Ermordeten waren offenbar nicht Beweis genug. Aber zumindest jetzt hat das Gericht versucht, sich der Aufgabe zu stellen.
Das Urteil am 23. Juli 2020 kann auch darüber entscheiden, ob die bisherige künstliche Differenzierung zwischen Vernichtungslager und Arbeitslager Bestand haben kann. Wird das Gericht feststellen, dass in Stutthof grausam gemordet wurde, indem die Gefangenen von Anfang an lebensfeindlichen Bedingungen ausgesetzt wurden mit dem Vorsatz, niemanden von den zur Auslöschung bestimmten Opfergruppen aus dem Lager zu lassen?
Der Angeklagte entschuldigte sich in seinem sogenannten letzten Wort für die Verbrechen im Konzentrationslager Stutthof. „Heute möchte ich mich bei denen, die durch diese Hölle des Wahnsinns gegangen sind, und deren Angehörigen, entschuldigen – so etwas darf niemals wiederholt werden“, sagte Bruno Dey. Er selbst habe dort aber nicht freiwillig gedient, ergänzte der Angeklagte.
Etliche Nebenkläger*innen hatten ein Schuldbekenntnis erwartet. Aber es gibt auch Stimmen wie die des Nebenklägers Marek Dunin-Wasowicz (93), früherer polnischer Gefangener, der die Entschuldigung zurückgewiesen hat. „Ich bin sprachlos – ich möchte seine Entschuldigung nicht, ich brauche sie nicht“. Wenn Dey sage, dass er vom Geschehen im Lager nichts bemerkt habe, „dann lügt er einfach“.
Esther Bejarano, der Vorsitzenden des Auschwitz-Komitees, ist angesichts dieses Prozesses wichtig:
„Wir müssen auf die Gegenwart schauen, wir müssen sehen, was hier bei uns und überall in der Welt passiert: Wir müssen uns hier und heute mit den Rechten auseinandersetzen, wir wissen doch, was geschieht, wenn die großen Einfluss haben. Und diese Prozesse mahnen uns, nie zu vergessen, wie schnell Nazis an die Macht kamen. Es macht mir Angst, wenn ich sehe, dass die Rechten hier immer stärker werden.“
Auch wenn dieser Prozess einer der letzten war – ein Schlussstrich darf nicht gezogen werden. Nicht nur die deutsche Justiz hat in der Bestrafung von Tätern versagt, auch die Gesellschaft insgesamt hat die Auseinandersetzung mit Tätern viel zu wenig geleistet. Wie sonst könnte es sein, dass für die Morde an mindestens 257 Menschen in Neustadt vom 3. Mai 1945, wo Bruno Dey vor Ort war, noch nie ein Täter verurteilt wurde?
Für viele Nebenkläger*innen gilt nach wie vor, was Éva Pusztai-Fahidi am 5. November 2015 bei einer Veranstaltung des Auschwitz-Komitees gesagt hat: „Uns geht es nicht um die Strafe, uns geht es um das Urteil – das Urteil der deutschen Justiz. Die deutsche Justiz muss noch heute Stellung nehmen und diese Verbrechen verurteilen.“
Nachbemerkung:
An jedem einzelnen der 45 Verhandlungstage – auch bei Wind, Wetter und Corona – haben wir gemeinsam mit der VVN-BdA und anderen draußen vor dem Strafjustizgebäude eine Mahnwache durchgeführt. Die Verhandlungen selbst haben wir im Gerichtssaal bis zum Corona-Lockdown durch einige zugelassene Zuhörer*innen verfolgt und protokolliert, danach konnten nicht mehr alle Prozesstage verfolgt werden.