Vor sieben Jahren setzte das FBI bis zu 10 Millionen US-Dollar auf den Kopf von Mohammed al-Jolani aus – tot oder lebendig. Heute gilt der Chef der terroristischen al-Nusra-Front, heute der Hai‘at Tahrir asch-Scham (HTS), als Befreier Syriens. Wie ein Kartenhaus brach der syrische Widerstand zusammen. Aleppo, Hama, Homs, Deraa – eine Stadt nach der anderen fiel in die Hände der HTS oder der von der Türkei kontrollierten FSA („Freie Syrische Armee“). Die Offensive der HTS ähnelte dem Blitzkrieg des IS, der vor zehn Jahren weite Teile des Irak eroberte. Am Ende fiel am 8. Dezember auch die Hauptstadt widerstandslos. Der gestürzte Präsident Baschar al-Assad verließ Damaskus. Israel jubelt. Die Hamas gratulierte den Syrern.
Noch am Abend vor dem Fall von Damaskus hatten sich die Vertreter der „Garantiestaaten“ im Astana-Prozess (Türkei, Russland und Iran) mit Vertretern Ägyptens, Jordaniens und des Irak getroffen. Sie beschlossen, dass es anders als erwartet kein militärisches Eingreifen geben würde. Zum wiederholten Male wurden die Phrasen von „territorialer Einheit Syriens“ und einem „politischen Prozess“ formuliert, um damit den Angreifern ein Gesprächsangebot zu machen. Es war der Versuch, an Institutionen zu retten, was noch zu retten war.
Der syrische Ministerpräsident Mohammed al-Dschalali erklärte seine Bereitschaft, mit jeder neuen Führung zusammenzuarbeiten. Er rief dazu auf, die staatlichen Institutionen zu erhalten und erklärte, er würde am nächsten Tag ganz normal zur Arbeit in seinem Büro erscheinen. Unterstützt wurde er dabei von al-Jolani, dem Führer der Angreifer. Der verbot auf seinem Telegram-Kanal allen Milizen, staatliche Institutionen zu besetzen. Sie würden unter Kontrolle des Ministerpräsidenten bleiben, bis sie offiziell übergeben würden.
Al-Jolani war federführend beim Sturz von Assad. Er ist Syrer aus wohlhabendem Hause und bewunderte die Angreifer vom 11. September. Er trat al-Kaida bei und kämpfte im Irak. Mit Beginn des Krieges kehrte er nach Syrien zurück und gründete die Nusra-Front als Teil von al-Kaida. Später distanzierte er sich von einigen seiner Ideen, er gilt manchen Beobachtern nun als „pragmatischer Radikaler“. Die US-Regierung plant bereits, seine Organisation von der Liste der Terrororganisationen zu streichen.
Wie konnte Syrien so widerstandslos zerfallen? War es der türkische Einfluss, der aus der vorgeblichen „Deeskalationszone“ in Idlib ein Trainingslager für Dschihadisten machte? Oder waren es britische und US-amerikanische Geheimdienstinformationen für HTS – die es vermutlich gab? War es wegen der neuartigen Waffe der Drohnen, über die die Angreifer in großem Maßstab verfügten – anders als die syrische Armee? Gab es die heimliche Zusammenarbeit von Teilen der Armee mit den Angreifern, wie 2014 im Irak? Oder hatten die unzähligen israelischen Angriffe Syrien sturmreif geschossen?
All das trug zur Niederlage bei. Aber vielleicht am wichtigsten war, dass es für Syrien keine Perspektive, keinen Weg in die Zukunft gab. Das Land war nicht in der Lage, Widerstand gegen die westlichen Sanktionen zu leisten. Netzwerke von Macht und Einfluss waren zu stark und zu wenig pragmatisch.
Nach zwölf Jahren Krieg und 20 Jahren Sanktionen sind die Syrer vollständig verarmt. Das Land, das einst eine Million Flüchtlinge aus dem Irak aufgenommen hatte, schickte seine Söhne und Töchter selbst ins Ausland. Es gab nichts mehr zu verteidigen.
Die USA hatten vom ersten Tag des Krieges an klargemacht, dass es für Syrien unter Assad keine Zukunft geben würde – und alles dafür getan, dieses Ziel zu erreichen. Wieder und wieder betonte die damalige Außenministerin der USA, Hillary Clinton – und später ihre Nachfolger –, Syrien unter Assad müsse zerstört werden. Auch wenn es nicht immer danach aussah, waren die USA mächtig genug, dieses Ziel zu erreichen.
Auch China sah, dass Syrien nicht mehr zu retten war – und beließ es zur Unterstützung bei kostenfreien Erklärungen. Investitionen – Fehlanzeige. Regierung und Investoren trauten der Stabilität des Landes nicht.
Die zahllosen Luftangriffe Israels, die schwersten seit dem Krieg von 1973, und die Annexion weiterer Teile des Golan, das Vordringen in den Süden von Damaskus, die Eroberung von Gebieten im Norden durch die Türkei beziehungsweise ihre „Syrische Nationale Armee“ zeigten schon am Tag danach, dass die Freude vieler Syrer über den Sturz Assads nicht grenzenlos sein wird.