Bereits vor der Insolvenzwelle steigt die „Sockelarbeitslosigkeit“

Sturmflutwarnung bei hohem Wasserstand

Küstenbewohner nehmen Sturmflutwarnungen meistens ernst. Sie fürchten solche Ereignisse erst recht dann, wenn sie sich mit der Meldung verbinden, dass schon vor dem Eintreffen der Wellen der Wasserstand vor den Deichen hoch sei.

Das aber ist ungefähr das Szenarium, das sich für die nächsten Monate im sozialen Gefüge der Bundesrepublik Deutschland abzeichnet. Ende Januar meldete sich der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, zu Wort und wies auf den besorgniserregenden Anstieg der sogenannten Sockelarbeitslosigkeit hin. Dieser Begriff bezeichnet die Personen, die seit mindestens zwölf Monaten vergeblich auf Stellensuche sind. Wohlgemerkt: Diejenigen, die beispielsweise seit zwölf Monaten vergeblich versuchen, aus einer prekären Beschäftigung heraus in eine besser bezahlte, unbefristete Anstellung zu wechseln, sind dabei überhaupt nicht erfasst. Diese so definierten „Langzeitarbeitslosen“ bilden in der Regel am Ende eines Krisenzyklus den hohen Sockel an Arbeitslosigkeit, der sich nur sehr langsam wieder abbaut. Denn wer so lange keine Beschäftigung nachweisen kann, hat es im Kapitalismus besonders schwer, seine Haut gegen Geld zu Markte zu tragen.
Scheele verwies darauf, dass seit den Pandemiemaßnahmen im März die Zahl der Langzeitarbeitslosen um über 200.000 auf inzwischen fast eine Million Menschen gestiegen sei, und kommentierte: „Ich befürchte, dass wir es erstmals seit den Arbeitsmarktreformen der 2000er Jahre wieder mit steigender Sockelarbeitslosigkeit zu tun bekommen. … Wir haben es diesmal nicht nur mit einem Konjunkturtief zu tun, das vorüberzieht.“ Sorgen bereite ihm auch, dass die Jugendarbeitslosigkeit um 20 Prozent höher liege als vor einem Jahr und sich diese Entwicklung zu beschleunigen drohe: „Wir merken … schon jetzt, dass die Arbeitgeber uns deutlich weniger Ausbildungsplätze melden.“

Der Prozess, der sich gegenwärtig abspielt, lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Von einigen Ausnahmen abgesehen sind große Entlassungswellen bisher vermieden worden. Aber in der sich gegenwärtig hartnäckig festsetzenden Krise werden neue Unternehmen kaum noch gegründet und die vorhandenen stellen keine neuen Arbeitskräfte ein. Lohnabhängige, die jetzt, ohne dass die Konkurse ihrer Arbeitskraftkäufer groß Schlagzeilen machen würden, aus den Bereichen Gastronomie, aus befristeten Arbeitsverträgen, aus Teilzeittätigkeiten heraus in das Heer der Arbeitslosen tröpfeln, treffen dort auf diejenigen, die ihre Berufs- oder Hochschulausbildung beendet haben. Sie alle gehen auf die Suche nach neuen oder nach Erstanstellungen. Aber sie können sich Löcher in die Schuhsohlen laufen und Mulden in die Tasten ihrer Laptops hämmern: Neue Stellen gibt es in diesem Land zurzeit so wenig wie Preiselbeeren im Winter. Also steigen schon vor der erwarteten Insolvenzwelle die Pegelstände der Dauer- oder Sockelarbeitslosigkeit.

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und andere sonnen sich landauf, landab in den Erfolgen des Kurzarbeitergeldes und der mit Milliardenspritzen vom Bund über Wasser gehaltenen Unternehmen, die ohne diese Hilfen im großen Umfang Menschen entlassen hätten. Diese Pakete haben in der Tat eine gewisse Wirkung. Aber durch sie werden keine neuen Unternehmen gegründet, in denen arbeitsuchende Menschen Lohn und Brot finden könnten.

Ein staatliches Arbeitsbeschaffungsprogramm ist nicht in Sicht – keines jedenfalls nach dem Muster des „New Deal“ des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, durch das Deiche gegen die Flut und Büchereien gegen die Dummheit errichtet wurden.

Wer politisch noch nicht einmal eine solche Maßnahme gegen die kommende Insolvenzwelle und die mit ihr verbundene Massenarbeitslosigkeit ergreift, dem kommt erst recht nicht einmal der Schimmer eines Gedanken an eine „große Initiative“, welche vor vielen Jahrzehnten im Osten Europas ergriffen wurde, als das Privateigentum an Produktionsmitteln durch gesellschaftliches Eigentum ersetzt wurde und auf dieser Grundlage Millionen vorher vom Arbeitsmarkt ausgeschlossene Menschen wieder sinnvolle Tätigkeiten fanden.

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"Sturmflutwarnung bei hohem Wasserstand", UZ vom 19. Februar 2021



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