Es geht um viel Geld. 2,6 Billionen Euro hat die Europäische Zentralbank (EZB) zwischen 2014 und 2018 in den Kauf von Staatsanleihen gesteckt. Über die Niedrigzinsgeldpolitik der Zentralbank gelangen Einzelstaaten günstiger an frisches Geld. So kam Italien in den Genuß von um vier Prozentpunkte verbilligte Kredite, für Spanien betrug die Zinsersparnis fünf, für Portugal sogar sieben Prozent. Die Bundesbank, die über 26 Prozent der Anteile an der EZB hält, war maßgeblich an der Umsetzung des Anleiheprogramms PSPP (Public Sector Purchase Program) beteiligt. Am 6. Mai hat nun der zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) unter Vorsitz des scheidenden Gerichtspräsidenten Andreas Voßkuhle, diese Praxis für nach deutschem Recht grundgesetzwidrig erklärt (Az. 2 BvR 859/15). Die Beschlüsse der EZB seien unter klarer Verletzung der Kompetenzgrenzen ergangen und dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), der am 11. Dezember 2018 die Geldpolitik der EZB noch als bedenkenfrei durchgewunken hatte, wird attestiert, es sei „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar“. Die Kläger im Karlsruher Verfahren, darunter Peter Gauweiler (CSU) und AfD-Mitgründer Bernd Lucke, hatten moniert, die EZB habe mit ihrem Anleiheprogramm unmittelbar in die Wirtschaftspolitik Deutschlands eingegriffen. Dadurch würden hochverschuldete Länder zum weiteren Schuldenmachen animiert, klamme Banken künstlich am Leben erhalten und die Geldschwemme bremse die wirtschaftliche Konsolidierung. In Berlin und Brüssel liegen nach dem Spruch aus Karlsruhe die Nerven blank: Der „Spiegel“ hält die Entscheidung für ein Attentat auf Europa, es sei „weltfremd und anmaßend, ja geradezu lächerlich und gefährlich“, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen droht mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen Deutschland, denn Währungspolitik sei Sache der EU, und zwar ausschließlich. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sieht bereits den Euro in Gefahr und die Süddeutsche Zeitung vom 9. Mai beklagt, Karlsruhe habe der europäischen Rechtsgemeinschaft, der „letzten Chance des Kontinents einen schweren Schlag versetzt“.
Die Aufregung entpuppt sich bei näherem Hinsehen als Sturm im Wasserglas. Weder verbietet die 110-seitige Entscheidung, die von sieben der acht Senatsmitglieder mitgetragen wurde, grundsätzlich Anleiheprogramme, noch wird etwa festgestellt, es hätte sich um eine Maßnahme verbotener Staatsfinanzierung gehandelt. Die Bedenken der Verfassungsrichter gehen an die Adresse der Bundesregierung und der Bundesbank: Diese sollen künftig darauf hinwirken, dass die EZB ihre Programme mit ausreichenden Begründungen zu deren Wirksamkeit und Folgen versieht. Konkret geht es darum, dass die mit der Maßnahme „angestrebten währungspolitischen Ziele nicht außer Verhältnis zu den damit verbundenen wirtschafts- und fiskalpolitischen Auswirkungen stehen“. Damit wird lediglich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz – ein nicht besonders schneidiges juristisches Instrument- in Erinnerung gebracht. Bundesregierung und Bundesbank müssen nun binnen drei Monaten bei der EZB vorsprechen, damit diese eine breitere Prüfung der Verhältnismäßigkeit des PSPP auf den Tisch legt. Also nur eine Nachbesserung: Ernsthafte Zweifel daran, dass die EZB diese niederschwellige Hürde mit Bravour nehmen wird, sind nicht angebracht. So zeigte sich die Stimmung an den Börsen auch weitgehend unbeeindruckt von der Karlsruher Entscheidung. Eine Gefährdung des Mitte März von der EZB aufgelegten Pandemie-Notfallankaufprogramms (Pandemic Emergency Purchase Programme – PEPP), in dessen Rahmen 750 MIlliarden Euro zur Verfügung gestellt werden, besteht ohnehin nicht – darauf haben die Karlsruher Richter schon von sich aus hingewiesen. Das Urteil ist alles in allem nur in einer Hinsicht bemerkenswert: Die dünnhäutigen Reaktionen auf die Entscheidung aus Berlin und Brüssel zeigen, wie fragil die juristischen Nähte sind, die die konträren nationalen und supranationalen Kapitalinteressen in der EU momentan noch zusammenhalten.