Am 3. September gedachte der Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“ der sowjetischen Kriegsgefangenen auf dem Ehrenfriedhof in Stukenbrock-Senne. Hubert Kniesburges, Vorsitzender des Arbeitskreises, sagte: „Wir appellieren anlässlich des Antikriegstages 2022 an die Verantwortlichen in Parlament und Regierung, den Friedensauftrag des Grundgesetzes zu erfüllen, sich jeglicher Kriegsbeteiligung zu widersetzen und statt eines 100-Milliarden-Euro-Aufrüstungsprogramms diese Mittel für eine sichere Umwelt und sozialen Fortschritt einzusetzen.“ Rund 500 Menschen beteiligten sich dieses Jahr am Gedenken, darunter der Schauspieler Rolf Becker, dessen Rede wir in Auszügen hier wiedergeben. Die gesamte Rede findet man unter kurzelinks.de/stukenbrock22. Zeitgleich fand vom 2. bis zum 4. September das Antifa-Camp auf Schloss Holte bei Stukenbrock statt.
Dank Ihnen und euch, Dank dem Arbeitskreis „Blumen für Stukenbrock“, dass ich nach drei Jahren wieder hier bei euch sein darf – in gemeinsamer Teilnahme und wie vermutlich alle hier in großer Sorge. Dank vor allem, dass ihr euch trotz aller im Lande verbreiteten Vorurteile nicht habt abhalten lassen vom Besuch dieser Gedenkveranstaltung, Dank ausdrücklich auch den anwesenden Vertretern des Russischen Generalkonsulats.
Vorab zu Schwierigkeiten, denen wir mehr oder weniger alle ausgesetzt sind, eine Antwort mit den Worten des griechischen Dichters und Widerstandskämpfers Jannis Ritsos:
„Die Worte, die man dir zu sagen verbietet, wenn du sie nicht aussprichst, bist du nicht du, noch ich oder ein anderer. Niemand bist du.
Sprich sie aus. Die Welt ist größer als die Verneiner der Welt. Die Welt gehört dir und du kannst sie geben.“
Teilnahme – gemeinsames Gedenken an die Tausende sowjetischer Kriegsgefangener, die hier gelitten haben, bevor sie starben – an Hunger, Kälte, Krankheiten, durch Misshandlung, Folter, Totschlag, Erschießen. 65 000 liegen hier – ein Teil der „geschätzt“ 3,3 Millionen Ermordeten von den 5,7 Millionen sowjetischen Gefangenen insgesamt, nur jeder Dritte von ihnen überlebte die Gefangenschaft.
Frage – heute leider notwendig geworden: Wie viele von ihnen waren Russen, wie viele Ukrainer, wie viele aus weiteren Völkern, die bis 1991 zur Sowjetunion gehörten? Soll unser Gedenken sich auf ein Unterscheiden einlassen zwischen denen, die hier nach gemeinsamen Kampf gemeinsam gelitten und ihr Leben gelassen haben?
Wir haben, um zur Zeit verbreiteten Vorurteilen entgegenzutreten, vor wenigen Wochen in Hörsten bei Bergen-Belsen, einer der niedersächsischen Gedenkstätten für ermordete sowjetische Kriegsgefangene, gegen das Verbot der Landesregierung die sowjetische Fahne mit Hammer und Sichel über den Gräbern gehisst – so wie hier, dort oben am Obelisken. Unser Gedenken bleibt unteilbar.
Entsprechend auch heute unsere Forderung:
Wiederherstellung des Obelisken in seiner ursprünglichen Form – nochmals verbunden mit dem Hinweis, dass die sowjetische Fahne seit einem Vierteljahrhundert Historie ist, aber weiterhin verbunden mit dem Bekenntnis zu ihrem Rot – „Tropfen für Tropfen aus Blut“ (Pablo Neruda).
Gemeinsame Teilnahme und Sorge, große Sorge. Bereits 2019, als ich hier zu Euch sprechen durfte, habe ich erklärt: „Sorge, weil ein weiterer Krieg, der die Unermesslichkeit des in den zwei Weltkriegen Erlittenen noch zu übersteigen droht – Folge auch der Tatsache, dass sich die deutschen Nachkriegsregierungen einer konsequenten Aufarbeitung des vermeintlich Vergangenen verweigert haben und bis heute verweigern.“
Wir sollten weiterhin an die Mahnung von Christa Wolf erinnern: „Das Vergangene ist nicht tot; es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.“
Gegen dieses „Uns-fremd-Stellen“ hat wieder und wieder auch Esther Bejarano, Überlebende der KZs Auschwitz und Ravensbrück, die uns im vergangenen Jahr für immer verlassen hat, hingewiesen und, vor allem an Jugendliche gerichtet, geäußert:
„Wo stehen wir – dieses Land, diese Gesellschaft – 75 Jahre nach der Befreiung durch die Rote Armee?“ (…)
„Nichts verfälschen, nichts beschönigen, nichts unterschlagen“ – diese von Esther vielfach wiederholte Mahnung sollte für uns besonders gelten, wenn es um den Krieg in der Ukraine geht. (…)
Ich wiederhole im Folgenden, was ich schon andernorts gesagt habe: Könnten wir hierzulande, europaweit und in der westlichen Welt Regierenden und Medien vertrauen, bliebe uns nichts anderes übrig, als ihren Maßnahmen zuzustimmen:
100 Milliarden zusätzlich fürs Militär, Hochrüstung und Rüstungsexporte, Kauf von Flugzeugen, die atomar bewaffnet werden können, Sparmaßnahmen und Importbeschränkungen – all das, um Russland zu schwächen, Vorbereitung schließlich auf eine nicht mehr auszuschließende atomare Auseinandersetzung der NATO mit Russland. Begründung für diese und zahlreiche weitere Schritte: der von Russland begonnene Angriffskrieg.
Wir sollten stattdessen nach den wirklichen Gründen der Auseinandersetzungen fragen, die bislang schon so viele Opfer gefordert hat, Tote, Schwerverletzte, Flüchtlinge – darunter zahlreiche Kinder. Sollten, wie bereits vor 500 Jahren Machiavelli und seitdem zahlreiche militärische Führer, Politiker und Staatsoberhäupter, uns klarmachen: „Nicht wer zuerst nach den Waffen greift, ist Anstifter des Unheils, sondern wer die Ursache dafür geschaffen hat.“
Als wir, Kolleginnen und Kollegen aus verschiedenen Gewerkschaften und politischen Zusammenhängen, 1999 nach unserer Reise ins von der NATO bombardierte Jugoslawien darauf hinwiesen, dass dieser Angriff unter deutscher Beteiligung eine entscheidende Etappe der militärischen Einkreisung Russlands sei, erfuhren wir überwiegend Ablehnung, auch innerhalb des DGB.
Vergeblich erinnerten wir daran, mit welchen Folgen Vertreter der Gewerkschaften und der SPD zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur „Verteidigung des Vaterlandes“ aufriefen und Arbeitskämpfe und gewerkschaftlichen Widerstand einstellten.
Vergeblich auch auf die bis heute dunkelsten Stunden der deutschen Arbeiterbewegung: die kampflose Niederlage Ende Januar 1933 bei der Machtübernahme der Nationalsozialisten unter Hitler. Nicht die Niederlage machte diese „dunkelsten Stunden“ aus, sondern dass sie kampflos erfolgte.
Und vergeblich erinnerten wir auch daran, dass dem Aufruf der Gewerkschaftsführung, den 1. Mai gemeinsam mit der NSDAP zu begehen, am Folgetag der Sturm der SA auf die Gewerkschaftshäuser folgte.
Auch wenn die damaligen Ereignisse nicht mit heutigen vergleichbar sind, sollte als Einsicht bleiben, dass weder Gewerkschaften noch Gruppen und Parteien der Linken durch Anpassung an die Interessen der herrschenden Klasse und der Regierenden etwas gewinnen, sondern nur ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten einschränken.
Zu unseren Einsichten sollte entsprechend gehören: Keine Solidarität mit der ukrainischen Regierung Selenski, wohl aber Hilfe und Unterstützung der leidenden Bevölkerung und gewerkschaftlich organisierter Kolleginnen und Kollegen.
Entsprechend auch:
Keine Unterstützung für den von Russland am 24. Februar begonnenen Krieg, dessen Ursachen wir versuchen nachzugehen und, soweit uns möglich, zu erklären, nicht aber zu rechtfertigen. Wir bleiben Internationalisten auf Seiten der arbeitenden und leidenden Bevölkerungen – wo auch immer, auch hierzulande.
Die Einkreisung Russlands ging und geht weiter: mit der NATO-Ausdehnung seit 1991, dem Maidan-Putsch 2014 und der folgenden Auseinandersetzung um die Donbass-Region, dem Versuch, die abgespaltene Krim wieder in die Ukraine zurückzuholen, die geplante Verstärkung der NATO an den Grenzen Russlands von bisher 40.000 auf 300.000 wie es heißt „militärische Verteidigungskräfte“.
Die Erweiterung der NATO um Schweden und Finnland verdeutlicht, dass es sich nicht um einen lokalen Krieg zwischen Russland und der Ukraine handelt, sondern um einen geopolitischen Großmachtkonflikt – in dem die Regierung der USA eine treibende Kraft ist.
Ein Kapitulationsfrieden kommt für Kiew ebenso wenig in Frage wie für Moskau ein völliger Rückzug aus dem Donbass und der Krim, die es als russisches Staatsgebiet betrachtet. Friedenslösungen, die auf Kompromissen und nicht auf Kapitulation beruhen, sind nur unterhalb der Maximalforderungen beider Seiten erreichbar.
Sollte sich der Krieg zwischen Russland und der Ukraine ausweiten auf den bislang durch Sanktionen und Waffenlieferungen indirekt geführten Krieg der NATO gegen Russland, würde Europa zum Kriegsschauplatz werden. Der nach China ökonomisch größte Konkurrent der USA wäre damit ausgeschaltet: eine Möglichkeit, die in Washington und auch in Kreisen der deutschen Wirtschaftsführung mitgedacht werden dürfte. Wir sollten das in unsere Überlegungen einbeziehen. Und sollten uns darüber klar sein und denen klarmachen, die wie Außenministerin Baerbock glauben, „Russland ruinieren“ zu können, dass wir nach allem, was die deutsche Wehrmacht, die Waffen-SS und weitere Organisationen im 2. Weltkrieg angerichtet haben, nicht die geringste Rücksicht zu erwarten haben, wenn Deutschland über die wirtschaftlichen Sanktionen gegen Russland und über die Waffenlieferungen an die Ukraine hinaus abermals Krieg gegen Russland führt. (…)
Dass die jetzt bewilligten ungeheuren Summen für die weiteren Rüstungsvorhaben in allen sozialen Bereichen fehlen werden und von der Bevölkerung aufgebracht werden müssen, wird auch bei vielen, die unsere Ansichten heute noch nicht teilen, zum Nachdenken im Sinne unseres Anliegens führen:
Widerstand gegen die geplanten Einschnitte, Nein zu Rüstung und Abbau sozialer Standards, Nein vor allem auch im Namen unserer Kinder, die um Bildung, Ausbildung, Arbeit und Perspektiven fürs Leben betrogen werden. Konsequenz kann nur sein, uns enger zusammenzuschließen, vor allem in der täglichen Kleinarbeit. Gegen Sozialabbau, für Frieden und Völkerverständigung:
Kampf um Frieden ist Kampf gegen den Kapitalismus. (…)
Die Gräber der Toten hier zu Fußstapfen der Freiheit machen – lasst uns den Auftrag annehmen. – Im Sinne des Aufrufs des Arbeitskreises „Blumen für Stukenbrock e. V.“:
- Schluss mit Kriegsrhetorik und Konfrontationspolitik.
- Rückkehr zu dem Minsk-II-Abkommen von 2015.
- Wiederaufnahme der Verhand-lungen NATO–Russland.
- Schluss mit den Sanktionen.
Frieden in Europa gibt es nur mit Russland: eine Lehre aus der Geschichte und ein Gebot der Gegenwart.