Wo de Ostseewellen trecken an den Strand …

Strukturelle Armut

Von Oliver Roth

Da gibt es viel Sand, viel Meer, viele Möwen – aber auch weniger Geld, weniger Freizeit und eine geringere Lebenserwartung. Mecklenburg-Vorpommern erlebte in der DDR einen regelrechten Aufschwung. Häfen wurden ausgebaut, Industrie angesiedelt, und die Städte wuchsen. Beispielsweise war Neubrandenburg die Bezirksstadt mit der jüngsten Bevölkerung. Arbeit war genug vorhanden, jedoch traf der Nordosten die Privatisierungs- und Schließungswelle der Betriebe ab 1990 besonders hart. Von den vormals mehr als 1,9 Millionen Einwohnern sind etwas mehr als 1,6 Millionen geblieben. Vor allem junge und gut ausgebildete Frauen und Männer wanderten in den Westen ab.

Auch 30 Jahre nach dem Fall der Mauer hat sich das Land von diesem sogenannten „Strukturwandel“ nicht erholt. Die meisten Beschäftigten arbeiten jetzt im Gastronomie- und Hotelbereich sowie im Gesundheitswesen oder immer häufiger in Callcentern. Die durchschnittliche Arbeitsstundenzahl im Jahr 2018 mit 1 417 Stunden lag über den Bundesdurchschnitt, und sie steigt. Lohnen tut sich das nicht für die Beschäftigten in Mecklenburg-Vorpommern, mit einem Durchschnittslohn von 2 496 Euro brutto (laut Bundesanstalt für Arbeit) bilden sie das Schlusslicht im Bund. 2017 wurde in einer Studie des DGB vorgestellt, dass Beschäftigte trotz eines monatlichen Bruttogehalts von 2 500 Euro und 40 Beitragsjahren in die Altersarmut rutschen. Dabei ist das Rentenniveau von 43 Prozent nur bis 2030 sicher. Das Problem ist die geringe Tarifbindung der Unternehmen. Weniger als die Hälfte der Beschäftigten profitiert von einer Tarifbindung in den Betrieben. Nach der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 spürten vor allem Beschäftigte in Mecklenburg-Vorpommern eine drastische Gehaltssteigerung. Trotzdem erlebt man immer häufiger, dass Betriebe versuchen, den eigentlich zu geringen Mindestlohn zu umgehen.

Schon heute leben in Mecklenburg-Vorpommern mehr als die Hälfte der Rentnerinnen und Rentner von weniger als 1 000 Euro. Eine Mindest- oder „Respekt“-Rente, wie sie von der Partei „Die Linke“ und der SPD gefordert werden, könnte zumindest den älteren Menschen helfen. Laut Statistischem Bundesamt sind derzeit 20,9 Prozent, also jeder fünfte der Männer, Frauen und Kinder von Armut gefährdet. Neben den Rentnerinnen und Rentnern, die oftmals noch Eigentum haben, sind es insbesondere Alleinerziehende und deren Kinder, die von Armut betroffen sind. In Mecklenburg-Vorpommern sind 56,9 Prozent der Bevölkerung alleinerziehend.

Was Armut konkret in einem Flächenland wie Mecklenburg-Vorpommern bedeutet, zeigt sich in einem immer kleiner werdenden Bewegungsradius und einer immer geringeren soziokulturellen Teilhabe. Bus und Bahn werden teurer sowie die Preise für Freizeitaktivitäten, aber auch Grundlegendes wie das Bezahlen von Schulspeisungen stellt für immer mehr Mütter und Väter ein Problem dar. Hungrige Kinder in einem reichen Land wie der Bundesrepublik sind mehr als skandalös! Die Anschaffung einer neuen Waschmaschine oder eines Kühlschranks, wenn ein altes Gerät den Geist aufgibt, bedeutet einen erheblichen finanziellen Einschnitt bei den Betroffenen, die das Geld an anderer Stelle dann einsparen müssen. Für die Menschen gibt es nicht einmal ansatzweise die Möglichkeit, Geld für solche Anschaffungen vorab anzusparen, geschweige denn fürs Alter etwas zur Seite zu legen. Es zeigt sich, dass selbst Beschäftigte mit einem vergleichsweise höheren Einkommen mit einem Bein in der Altersarmut stehen.

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"Strukturelle Armut", UZ vom 16. August 2019



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