Bundesregierung will nicht mit den Taliban über humanitäre Hilfen reden, aber nach Afghanistan abschieben

Streit um Afghanistan

Afghanistan befindet sich nach viereinhalb Jahrzehnten Krieg, darunter zwei Jahrzehnte unter westlicher Besatzung, in einem katastrophalen Zustand. Laut aktuellen Angaben sind 23,7 Millionen Afghanen – bei einer Gesamtbevölkerung von wohl rund 43 Millionen – auf humanitäre Hilfe angewiesen, darunter 12,3 Millionen Kinder. 14,2 Millionen Menschen haben nicht genug Nahrung zur Verfügung und hungern; laut UNICEF müssen über 850.000 Kinder im Alter von unter fünf Jahren wegen akuter schwerer Unterernährung behandelt werden. Aussicht auf eine Besserung der Verhältnisse besteht zurzeit nicht. Dazu haben nicht zuletzt die westlichen Mächte beigetragen, unter deren Besatzung Afghanistan sich ab 2001 in eine typische abhängige Besatzungsökonomie transformierte.

Katastrophal ist in Afghanistan zudem die Lage der Frauen – dies auch jenseits von Armut und Hunger, die sie in besonderem Maß treffen. Die Möglichkeiten zur Erwerbsarbeit sind extrem limitiert; auch die Zugänge zum Bildungssystem sind minimal. So dürfen Mädchen lediglich sechs Jahre zur Schule gehen; weitergehende Bildung für junge Frauen existiert nicht. Allerdings ist die Lage nicht frei von Widersprüchen. So können heute, laut einer Weltbank-Studie, Millionen mehr Mädchen die Grundschule besuchen als vor dem Abzug des Westens: Ihr Schulweg ist nicht mehr durch Krieg oder Banden bedroht; zudem gilt der Taliban-Unterricht in ultrakonservativen ländlichen Regionen als „moralisch sicher“.

Konflikte lösten nun Bemühungen der Vereinten Nationen aus, gewisse Arbeitsbeziehungen zu den Taliban aufzubauen, um der humanitären Katastrophe zumindest ein Stück weit abzuhelfen. Bereits im Mai vergangenen Jahres lud UN-Generalsekretär António Guterres die Afghanistan-Beauftragten einer ganzen Reihe von Regierungen ein, um sich über den Umgang mit den von keinem Staat weltweit anerkannten De-facto-Herrschern Afghanistans auszutauschen. Die Taliban selbst waren dazu nicht eingeladen. Im Februar folgte ein zweites Treffen in Katars Hauptstadt Doha; die UNO hatte dieses Mal die Taliban wie auch afghanische Journalisten und Frauenrechtlerinnen zu der Zusammenkunft hinzugebeten. Die Taliban blieben dem Treffen fern; ein Sprecher erläuterte später, die Versuche des Westens, auf sie „Druck auszuüben“, würden „scheitern“.

Für den vergangenen Sonntag sowie für Montag hatte die UN ein erneutes Treffen in Doha anberaumt, diesmal aber, um überhaupt Kontakte aufbauen zu können, nur die Taliban eingeladen. Frauenrechtlerinnen und andere gesellschaftliche Kräfte jenseits der Taliban nahmen nicht teil, wurden jedoch zu einem eigenen Treffen am 2. Juli gebeten. Scharfe Kritik an dieser Trennung haben mehrere westliche Regierungen geübt, darunter die deutsche; demnach soll der Druck auf die Taliban aufrechterhalten werden. Weshalb das plötzlich zu Erfolgen führen soll, ist nicht ersichtlich.

Unterdessen will die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan wieder aufnehmen und plant in einem ersten Schritt die Abschiebung von Straftätern in das Land, mit dessen Machthabern sie nicht einmal reden will. Weil Deutschland keine diplomatische Vertretung am Hindukusch unterhält, gilt die Durchführung der Maßnahme als schwierig. Ersatzweise nimmt Berlin jetzt Abschiebungen in Drittstaaten in den Blick. Als Modell könnte Schweden gelten. Das Land fliegt Afghanen, die offiziell „freiwillig“ zurückkehren, nach Usbekistan; dort, so wurde ein zuständiger Polizist im öffentlich-rechtlichen Sender SVT zitiert, „sorgen (wir) dafür, dass sie das Flugzeug nach Kabul besteigen“. Dabei handelt es sich um Maschinen der afghanischen Fluglinie Kam Air, die aufgrund fehlender Sicherheitsstandards in der EU nicht landen oder starten darf. Für den Abtransport abgeschobener Afghanen aus Usbekistan nach Kabul reichen die Standards offenkundig aus.

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"Streit um Afghanistan", UZ vom 5. Juli 2024



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