Vom Autor erscheint demnächst in zweiter Auflage das Buch
„Umgang mit dem Arbeitsrecht“
„Die Zeit“ titelte ziemlich übertrieben: „Amazon muss Streiks auf dem Betriebsgelände hinnehmen“ (Zeit-Online 20.11.2018). Was war geschehen? Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hatte im Rahmen zahlreicher Rechtsstreitigkeiten zwischen dem tarifunwilligen Unternehmen und der Gewerkschaft ver.di wie folgt geurteilt: „Das Streikrecht umfasst die Befugnis …, die zur Arbeitsniederlegung aufgerufenen Arbeitnehmer unmittelbar vor Betreten des Betriebes anzusprechen, um sie für die Teilnahme am Streik zu gewinnen.“ (Urteil vom 20.11.2018, 1 AZR 12/17). Das war und das ist nichts Neues.
Schon im Jahre 1901 (!) hatte das Reichsgericht festgestellt, dass die bloße Einwirkung von Streikposten auf Streikbrecher straflos sei. Ansonsten versuchten die Unternehmer jahrzehntelang, das Streikpostenstehen mit dem Argument zu verhindern, Streikbrecher würden in ihrer „Freiheit“ von Streikposten bedroht oder beeinträchtigt. Die Frage, ob ein Streik auf dem Betriebsgelände stattfinden könne (also quasi Betriebsbesetzungen zulässig seien), wurde weder damals noch heute gestellt. Streikposten standen und stehen am „Eingang“. Was sich änderte, war nicht die Rechtsprechung, sondern die Lokalität von „Betriebseingängen“. Was früher direkt an eine öffentliche Straße grenzte, hat jetzt im Vorfeld riesige Parkplätze, denn die wenigsten Beschäftigten kommen noch mit Fahrrad oder zu Fuß. Und wenn bei einem solchen Sachverhalt die Streikposten nur noch an der Einfahrt zum Parkplatz stehen dürfen, dann rauschen die Beschäftigten mit ihren PKW garantiert an ihnen vorbei. Ein Recht der Streikposten, die Fahrer anzuhalten, besteht nicht. Damit hätte das Streikpostenstehen nur noch dekorativen Charakter. Deshalb urteilte jetzt das BAG, dass das Streikpostenstehen gegebenfalls „mangels anderer Mobilisierungsmöglichkeiten“ auf einem Firmenparkplatz „vor dem Betriebsgelände zulässig“ sein könne. Ein Schelm, wer darin die Zulassung von Streiks auf dem Werksgelände sieht ….
Und so stellte die Präsidentin des BAG auch klar, dies sei „kein Freibrief für jedwede gewerkschaftliche Aktion“. Im konkreten (!) Fall habe der Arbeitgeber eine kurzzeitige (!) situative Inanspruchnahme geringer (!) Flächen des Firmenparkplatzes (!) vor (!) dem Betriebsgelände hinzunehmen.
Der Schritt hin zu einer „Legalisierung“ des Streiks auch auf dem Betriebsgelände steht noch aus. Und doch zeigt das Urteil, dass gewerkschaftliche Praxis auf Dauer sehr wohl auch zu einer weniger streikfeindlichen Rechtsprechung führen kann. Zweifellos hat bei der Beurteilung des Falles für das BAG auch eine Rolle gespielt, dass die größte Dienstleistungsgewerkschaft der Welt (!) nun seit über vier Jahren erfolglos versucht, den Giganten amazon zum Abschluss eines Tarifvertrages zu bewegen. Wenn sich das fortsetzt, dann steht über kurz oder lang sogar der vom BAG entwickelte und von den DGB-Gewerkschaften anerkannte Begriff der Gewerkschaft auf dem Spiel. Danach ist eine Gewerkschaft nur dann „tariffähig“, wenn sie „genügend Druck auf den sozialen Gegenspieler ausüben kann“ und dieser sich deshalb zum Abschluss von Tarifverträgen veranlasst sieht: Amazon hat sich bis heute zu nichts veranlasst gesehen. Es führt die Gewerkschaften und die Rechtsprechung regelrecht vor. Das Urteil war deshalb eine kleine, sehr verhaltene Reaktion des BAG auf diesen Skandal. Es sind weitere weitaus weniger verhaltene Reaktionen fällig.