„Räucherware hält sich länger“, lacht Anja. Gerade hat der Wind wieder gedreht. Jetzt bekommt eine andere Kollegin den Rauch des Feuers ins Gesicht geweht. Der Rauch brennt in den Augen, man muss ausweichen.
Anja arbeitet als Krankenpflegerin in der Asklepios-Fachklinik in Brandenburg an der Havel. Heute nicht, heute streikt sie. Zusammen mit einem knappen Dutzend Kolleginnen – Männer sind nur wenige dabei – bildet sie an diesem Freitagmorgen die Streikwache. Es ist der 5. November 2021, ein grauer Tag im Spätherbst. 8 Grad zeigt das Thermometer, gefühlt sind es einige weniger. Ohne die Wärme des Feuers hielte es hier niemand lange aus. Es brennt in einer metallenen Feuerschale mit kleiner Flamme vor sich hin. Viele stehen schon seit sechs Uhr morgens hier, auf einem Streifen Wiese an den Straßenbahnschienen vor dem Haupteingang der Klinik. Gleich hinter den Schienen beginnt ein herbstlich gefärbter Wald. Der Gördener See ist nicht weit. Eine Idylle, wäre es nicht so kalt.
In Warnwesten mit ver.di-Logo stehen die Streikenden in wechselnden Grüppchen rings um das Feuer herum. Sie essen selbst mitgebrachten Kuchen, schlürfen Kaffee oder Tee und unterhalten sich in gelöster Stimmung über private und berufliche Themen. Der Altersdurchschnitt dürfte bei über 50 Jahren liegen. Die meisten Kolleginnen arbeiten schon seit Jahrzehnten in der Klinik hinter ihnen und kennen sich entsprechend lange. Immer wieder fallen Insider-Witze aus dem Arbeitsalltag. Der Umgang miteinander ist kollegial und solidarisch.
90,8 Prozent der ver.di-Mitglieder, die bei der Asklepios Fachkliniken Brandenburg GmbH arbeiten, hatten am 5. Oktober 2021 für einen unbefristeten Streik gestimmt. Schon seit April führt ver.di Tarifverhandlungen für die 1.450 Beschäftigten der drei Brandenburger Standorte Brandenburg an der Havel, Lübben und Teupitz.
Die wichtigste Forderung der Gewerkschaft: Die Brandenburger Beschäftigten sollen zu den gleichen Konditionen arbeiten und bezahlt werden wie ihre Kolleginnen und Kollegen an Asklepios-Kliniken in Hamburg oder Göttingen. Davon sind die Brandenburger Kollegen nämlich weit entfernt. „Heute müssen sie umgerechnet bis zu elf Tage mehr pro Jahr arbeiten bei bis zu 21 Prozent weniger Entgelt“, teilt ver.di in einer Pressemitteilung mit. „Dabei ist die Bezahlung der Krankenhausleistungen und der Psychiatrischen Krankenhäuser bundesweit einheitlich. Es gibt also keine wirtschaftliche Rechtfertigung dafür, die Krankenhaus- und Psychiatriebeschäftigten in Ostdeutschland schlechter zu bezahlen als in Westdeutschland, so wie es Asklepios derzeit tut.“
Jemand legt Holzscheite nach, um das Feuer zu nähren. Ab und an geht eine Kollegin, eine andere kommt. Wer kommt, bringt Kaffee oder Kuchen mit und erfährt, dass es die erste Stunde der Streikwache hindurch regnete. Ein einzelner blasser Sonnenstrahl um Viertel nach neun wird freudig begrüßt.
Plötzlich hält ein SUV kurz vor der Streikwache. Ein älterer Herr mit Halbglatze und Hornbrille steigt aus und geht zielstrebig auf die Streikenden zu. Er stellt sich als Volker Thesing vor, Regionalgeschäftsführer von Asklepios. Er sagt etwas von einem gewissen Verständnis, das er für die Forderung der Streikenden habe, und einem neuen Angebot, das die Geschäftsführung am Montag unterbreiten würde. Ob er noch Fragen beantworten dürfe?
Wie das Angebot denn aussehe, fragt ein Kollege. Das dürfe er nicht sagen, sagt Thesing.
Wann denn die Corona-Prämie endlich ausgezahlt werde, möchte ein anderer Kollege wissen. Dazu müsse man sich erst einigen, behauptet Thesing. Das würde man ja sicher verstehen.
Dann verschwindet er so abrupt, wie er gekommen war.
Mit der Corona-Prämie wolle der Konzern die Beschäftigten über den Tisch ziehen, erklärt eine Kollegin. Ein Rechentrick, um behaupten zu können, man habe 16 Prozent mehr Lohn angeboten. Würde die Corona-Prämie als Gehaltsbestandteil ausbezahlt, sei sie nicht mehr steuerfrei, ergänzt ein Kollege. Er hat ganz und gar kein Verständnis dafür, noch immer keine Corona-Prämie bekommen zu haben.
Herr Thesing habe sein Erscheinen nicht angekündigt, kritisieren mehrere Kolleginnen, man habe sich so nicht vorbereiten können. „Psychologische Kriegsführung“ nennt eine Streikende den Auftritt des Geschäftsführers. „Ob der auch Ost-Gehalt bekommt?“ fragt eine andere. Schallendes Gelächter.
Wieder legt jemand Holz nach. Eine ältere Kollegin bringt Eierpunsch vorbei, sie wird stürmisch begrüßt. 15 Jahre lang habe man jetzt stillgehalten, erzählt eine Streikende. Sieben Jahre liege die letzte Lohnerhöhung zurück. Seitdem bestehe Asklepios auf Abschlüsse unterhalb des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst (TVöD). Die Schere zum TVöD wuchs immer weiter. Mittlerweile ist die Bezahlung so schlecht, dass Asklepios keine Arbeitskräfte mehr findet. Die Altersstruktur sei „extrem schlecht“, sagt eine langjährige Beschäftigte. Junge Menschen würden direkt nach ihrer Ausbildung gehen. Beim Städtischen Klinikum in Brandenburg verdienten sie sofort 200 Euro mehr pro Monat. In den nächsten zehn Jahren werde der Personalmangel noch schlimmer, weil viele der Beschäftigten in Rente gingen.
Fehlendes Personal gleiche Asklepios zum Teil durch freie Mitarbeiter aus, erzählt Kollege Enrico. Die seien teurer als Festangestellte, kennen sich aber auf den Stationen nicht aus, kennen die Patienten nicht und sind nicht Brandschutz unterwiesen. Andere Kollegen erzählen von geschlossenen Stationen und Pflegern, die zwischen verschiedenen Stationen hin und her springen müssen. Darunter leiden Patienten und Pfleger. Der Krankenstand sei sehr hoch, erzählen mehrere der Streikenden. Oft seien erkrankte Pfleger lange arbeitsunfähig. Hausärzte in der Region seien sofort im Bilde, wenn nur der Arbeitsplatz genannt wird.
Aus den Berichten der Kolleginnen spricht tiefe Frustration. „Mir ist oft zum Heulen“, sagt eine Krankenpflegerin. „15 Jahre noch – ick dreh durch“, seufzt ein Kollege mit Blick auf seine Rente. Dabei hatten sie sich einst alle bewusst für ihren Beruf entschieden, aus Humanismus. Die Ideale aus der Ausbildung seien längst passé, sagt jemand. Das Motto des Asklepios-Konzerns müsse ehrlicherweise heißen: „Nicht heilen, damit sie wiederkommen.“
Das Feuer ist mittlerweile erloschen. Die meisten der Streikenden sind nach Hause gefahren. In ihrem Streik sehen sie die letzte Möglichkeit, noch etwas zu verändern. „Eigentlich streiken wir für die Patienten.“