Endlich tritt jemand auf, der laut feststellt: Die offizielle Strategie gegen die Corona-Seuche ist gescheitert. So steht es im Aufruf #ZeroCovid, der binnen weniger Tage zehntausende von Unterstützungsunterschriften eingesammelt hat. Gemeint ist die Strategie der Bundesregierung und die der meisten anderen westlichen Länder. Fast ein Jahr lang haben die Bürger dieses Landes die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus hingenommen und sie zuweilen mangels einer Alternative sogar begrüßt.
Im März 2020 traf die Bundesregierung die heute noch gültige strategische Entscheidung, die Infektionen auf so niedrigem Niveau zu halten, dass die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht völlig überfordert werden. Um das zu erreichen, wurde ein Lockdown für die Bevölkerung verhängt, der die sozialen Kontakte und damit die Gelegenheit zur Infektion reduzieren sollte. So wollte man die Seuche auf niedrigem Niveau köcheln lassen, bis nach gefundenem Impfstoff die Bevölkerung weitgehend immunisiert und die Seuche damit unschädlich werden würde.
Als Ergebnis haben wir harte Restriktionen, keine Kontrolle über die Ausbreitung der Krankheit und hohe Ansteckungsraten. Diese Strategie „hat das Leben dauerhaft eingeschränkt und dennoch Millionen Infektionen und Zehntausende Tote gebracht“, stellt der Aufruf #ZeroCovid richtig fest. Statt die Restriktionen je nach Lage hoch- und wieder herunterzufahren, soll ein „solidarischer Shutdown“ mit dem Ziel null („zero“) Infektionen stattfinden. Vor allem die bisher völlig verschonte „Wirtschaft“ soll genauso heruntergefahren werden wie das öffentliche Leben und private Kontakte.
Tatsächlich ist auffällig, wohl besser skandalös, dass kapitalistische Produktion und Gewerbe unter den Lockdown-Maßnahmen so gut wie nicht vorkommen. Nur wenn einzelne Betriebe sich als Infektionsherde herausgestellt hatten, wie die notorischen Fleischfabriken eines Herrn Tönnies, wurden sie – vorübergehend – dichtgemacht.
ZeroCovid wirkt in dieser Situation attraktiv. Erstens durch die Änderung des Ziels: Ansteckungen auf Null reduzieren statt weiter köcheln; zweitens des Mittels: „eine solidarische Pause von einigen Wochen (…) wir schränken unsere direkten Kontakte auf ein Minimum ein – und zwar auch am Arbeitsplatz!“
Der erste Einwand gegen diesen Aufruf lautet, dass das nicht funktionieren wird. Deutlich wird das an der Zusatzforderung der Aufrufer, es müsse „in allen europäischen Ländern schnell und gleichzeitig gehandelt werden“. Wer die Darbietungen der Regierungen in der EU ansieht, weiß, dass gemeinsames Handeln der Regierungen ein Widerspruch in sich ist.
Wir wollen den Shutdown von unten, solidarisch und freiwillig, sagen da die Initiatoren des Aufrufs. Auch das klingt sympathisch – gleichzeitig aber auch hoffnungslos utopisch. Ein harter Shutdown würde, wenn überhaupt, von Regierungen exekutiert. Die Auswahl, welcher Betrieb als überlebenswichtig weiterarbeiten darf, würde primär von Kapitalinteressen entschieden.
Ärgerlich an diesem Aufruf ist, dass er sich ausgerechnet auf einen anderen stützt, auf den „Action plan for pan-European defence against new Sars-CoV-2 variants“, organisierende Autorin ist Viola Priesemann. Dieser Aufruf beschäftigt sich bei der Analyse der Seuche ausschließlich mit dem Verhalten des Virus. Die gesellschaftlichen Umstände, unter denen es sich verbreitet oder auch stoppen lässt, werden systematisch ausklammert. Die Bundesregierung und ihre Berater machen auch zwanghaft diese Fehler. Das Gesundheitssystem gerät damit aus dem Blickfeld – außer als limitierender Faktor, wie viel Infektionen gerade tolerabel sind.
Ein Aufruf in der aktuellen Notlage sollte die Wiederbelebung der Epidemiologie als Gesellschaftswissenschaft und die Gesundung des Gesundheitssystems fordern. Beides sind keine Ziele für die Zeit, wenn das Virus besiegt ist, sondern notwendig, um es zu besiegen.