Im vergangenen Jahr sind in der Türkei laut der kurdischen Nachrichtenagentur „ANF“ 474 Frauen von ihren Männern, Vätern, Onkeln oder anderen männlichen Familienangehörigen ermordet worden. Obwohl Frauenrechtsorganisationen einen besseren Schutz vor Gewalt fordern, wird die Regierung kaum tätig und die Justiz geht weiterhin mit großer Nachsicht gegen die Täter vor.
Auch die Türkei hat die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, unterzeichnet, doch in der Praxis tut sich nichts.
Im Gegenteil: Laut einer Meldung der türkischen Zeitung „Birgün“ sieht ein aktueller Gesetzentwurf der türkischen Regierung vor, dass Vergewaltiger von Minderjährigen straffrei bleiben, wenn sie ihr Opfer nach der Tat „einvernehmlich“ heiraten. Letzten Endes bedeutet dies eine gesetzliche Legitimierung von Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch und Kinderheirat. Denn das Mädchen muss für diese „Heirat“ erst mindestens zwölf Jahre alt sein. Auch bereits verurteilte Männer, die für ihre Tat im Gefängnis sitzen, könnten von dem Gesetz profitieren – sofern sie eine Ehe mit ihren Opfern eingehen, könnten sie freigelassen werden. Bis zu 4.000 Täter könnten diese Regelung nutzen. Die derzeitige Gesetzeslage in der Türkei sieht vor, dass einem Mann, der eine Minderjährige unter 15 Jahre vergewaltigt, bis zu drei Jahre Gefängnis drohen. Bereits 2016 wurde versucht, ein ähnliches Gesetz auf den Weg zu bringen, was aber an massiven Protesten gescheitert ist.
Gegen Proteste geht der türkische Staat mit harten Repressionen vor, auch, wenn die Protestierenden Frauen sind. So gingen im November 2019, am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, in Istanbul tausende Frauen auf die Straße und demonstrierten friedlich, bis die Demonstration mit Tränengas und Gummiknüppeln aufgelöst wurde. Das Gleiche passierte am Internationalen Frauentag 2019. Kurz vor einer Großkundgebung gegen Gewalt und für mehr Frauenrechte wurde diese verboten und mit Tränengas und Gummigeschossen aufgelöst.
Auch die Ablehnung religiöser Kopfbedeckungen ist der AKP-Regierung ein Dorn im Auge.
Viele, hauptsächlich junge Frauen, protestieren gegen das Tragen von Kopftüchern. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes will ein Verbot von Kopftüchern für Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr erreichen.
Nach dem Militärputsch 1980 wurde das Tragen von Kopftüchern an Universitäten und öffentlichen Einrichtungen untersagt, 1997 wurde das Verbot noch einmal verschärft. Präsident Erdogan hat dieses Verbot aufgehoben. Die Frauen seiner Familie präsentieren sich stolz mit Kopftuch, aber immer mehr Frauen lehnen dies ab. Im Internet findet eine Kampagne viel Zuspruch, bei der tausende Frauen ihr Kopftuch ablegen und Vorher-Nachher-Bilder posten. Viele berichten dazu, dass ihre Familie sie zum Tragen des Kopftuchs gezwungen hat, wie schwer es war, sich diesem Zwang zu widersetzen, und dass sie das Ablegen des Kopftuchs als Akt der Befreiung empfinden.
Auch in Arbeitskämpfen sind türkische Frauen aktiv. Nachdem 2018 in der türkischen Kosmetikfabrik „Flormar“ 135 meist weibliche Beschäftigte entlassen wurden, weil sie sich gewerkschaftlich organisierten, formierte sich ein breiter Widerstand. Monatelang protestierten Frauen vor den Fabriktoren und forderten die Wiedereinstellung. Unter dem Motto „Nicht Flormar, sondern Widerstand macht uns schön“ gab es Solidaritätsaktionen von feministischen und gewerkschaftlichen Gruppen in vielen Städten der Türkei. Auch wenndie Wiedereinstellung der Frauen nicht erreicht wurde, sondern lediglich eine finanzielle Entschädigung, machte der Kampf Mut und weckte ein Gefühl der Solidarität und Zusammengehörigkeit.
2014 machte Erdogan klar, was er von Gleichberechtigung hält: „Man kann Frauen und Männer nicht gleichstellen. Das ist gegen die Natur“, verkündete er ausgerechnet auf dem Kongress einer Frauenorganisation – und brachte damit einen großen Teil der türkischen Frauen gegen sich auf. Inzwischen gibt es eine sehr breite und aktive Frauenbewegung gegen die rückwärtsgewandte Frauenpolitik. Ihr Protest ist und bleibt vielfältig, allen Repressionen zum Trotz.